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Humboldt und der letzte Lauf – Kapitel 1

von | 13. September 2021

Hotel Dreiländereck Zittau
Premierenlesung aus „Humboldt und der letzte Lauf“
30. September 2021
Humboldt und der letzte Lauf
Kapitel 1

„Auf geht’s, Bernd! Du hast es gleich geschafft!“, hörte Humboldt Christin rufen.

Er musste sich ein Grinsen verkneifen. Niemals hätte er gedacht, dass sie so ehrgeizig sein konnte. Obwohl, wenn er es sich recht überlegte, dann führte sie auch ihre Arbeit als Journalistin mit großem Engagement aus. Nur wenn sie gemeinsam klettern oder wandern gingen, wirkte sie immer sehr entspannt. Aber dieser Teamwettbewerb zeigte ihm ungeahnte Seiten an ihr. Seit sie sich im Frühjahr bei der O-See-Challenge, einem Cross-Triathlon direkt am Olbersdorfer See, angemeldet hatten, hatte sie oft im Hallenbad und später im See trainiert. Für ihn dagegen sollte das eigentlich eine nette Abwechslung von seinem stressigen Alltag sein und keine solche Dimension annehmen. Auch den Dritten im Bunde hatte sie schon bald infiziert. Bernd war der Mann ihrer besten Freundin Andrea und ein mäßig ambitionierter Hobbyradler. Allerdings trat er seit Christins Ansage nun auch fast täglich in die Pedale.
„Hau rein!“, hörte er plötzlich eine Männerstimme hinter sich. Danach klatschte etwas auf seinen Rücken und schob ihn an. Jetzt hätte er doch beinahe seinen Start verpasst. Gut, dass Bernd ziemlich fertig zu sein schien, so blieb ihm Humboldts Träumerei verborgen. Sein Mannschaftskollege war ein paar Meter weiter stehen geblieben und keuchte. Trotzdem schaffte er es noch, ihn anzufeuern.
Also, dann mal los, dachte Humboldt und nahm die ersten Meter mit großen Schritten. Doch schon beim folgenden Anstieg, der es gleich in sich hatte, spürte er seine Oberschenkel heftig brennen. Hätte er sich doch intensiver aufwärmen und vielleicht den einen oder anderen Plausch weglassen sollen? Aber seitdem er mit Christin häufiger im Zittauer Gebirge unterwegs war, kannte er doch eine Menge Leute. Und wann kam er schon mal dazu, sich so entspannt zu unterhalten? Da musste er jetzt durch.
Die erste Teilstrecke führte bergauf und bergab über hügelige Wiesen, die von Menschenmengen gesäumt waren. Hier konnte er sich keine Blöße geben und jetzt schon schwächeln, obwohl er am liebsten einen Gang rausgenommen und ein bisschen langsamer gelaufen wäre.
„Humboldt, das hab ich schon schneller gesehen!“ Natürlich hörte er Christins Stimme unter allen anderen heraus. Sie war doch nicht wirklich sauer auf ihn? Als er einen Seitenblick wagte, sah er jedoch, dass sie ihn schelmisch angrinste. „Jetzt versau uns nicht die Staffel, sondern gib mal Gas“, legte sie noch nach, dann war er an ihr vorbei. Die anfeuernde Menge verschluckte allmählich ihr Lachen.
Christin hatte den Anfang ihres Teams gebildet und war auf die 1,1 Kilometer lange Schwimmstrecke gegangen. Sie hatte das Wasser in der ersten Verfolgergruppe verlassen und auf Bernd gewechselt, dem 30 Kilometer Mountainbike durchs Gebirge bevorstanden. Noch bis vor ein paar Minuten war Humboldt froh gewesen, den 10- Kilometer-Lauf übernommen zu haben. Schließlich ging er, wenn es die Arbeit zuließ, auch ab und an laufen. Bei seiner Überlegung hatte er nur eine Komponente vergessen: Das Wetter! Als er vorhin kurz auf sein Handy geschaut hatte, zeigte das Display 34 Grad an. Und das spürte er jetzt mit voller Wucht. Mittlerweile hatte er die freie Fläche geschafft und lief jetzt am Campingplatz entlang in den Wald hinein. Hoffentlich wurden die Temperaturen dort ein wenig angenehmer. Wie gut hatten es da die Schwimmer! Und die Mountainbiker konnten wenigstens in der Abfahrt auf etwas Fahrtwind hoffen. Wobei er nicht an die steinigen und mit Wurzeln übersäten Wege denken wollte. Da wiederum kam er zu Fuß besser zurecht.
Allmählich fand Humboldt zu seinem gewohnten Laufrhythmus. Er brauchte diese ganze Aufregung während eines Rennens nicht. Viel lieber genoss er die Ruhe im Wald. Deshalb benutzte er auch nie Kopfhörer, um sich mit Musik volldröhnen zu lassen.
Auf den nächsten Kilometern konnte er richtig Fahrt aufnehmen und sogar den einen oder anderen Läufer überholen. Christin wäre sicher stolz auf ihn. Bei diesem Satz hätte er beinahe angefangen zu lachen. Im letzten Jahr hatte sich einiges verändert in seinem Leben, besonders in seinem Gefühlsleben. Nach einem klärenden Gespräch und einer wundervollen zweiten Nacht hatten sie viel Zeit miteinander verbracht. Entweder waren sie in Dresden oder in Christins Baude in Oybin. Sogar einen kurzen Kletterurlaub in der Fränkischen Schweiz hatten sie unbeschadet überstanden. Nein, obwohl er sich wirklich immer wieder fragte, was Christin an ihm fand und sich nicht hatte vorstellen können, jemals wieder geliebt zu werden, wurde der Begriff „unbeschadet“ der Zeit mit Christin nicht gerecht. Ihre Beziehung beruhte auf viel Respekt und liebevoller Vorsicht. Auch das war zu wenig. Ja, sie liebten sich beide sehr. Aber manchmal eben noch mit angezogener Handbremse. Oder empfand nur er das so?
Humboldt musste sich jetzt konzentrieren. Er passierte gerade eine Stelle, bei der die Läufer auf Steinen balancierend einen schmalen Fluss überqueren mussten. Da er wusste, dass es nun nicht mehr weit bis ins Ziel war, legte er noch einmal einen Zahn zu. Allerdings bereute er das sofort, als er den Wald verlassen hatte und wieder Richtung See lief. Die Sonne brannte unbarmherzig und er spürte einen unbändigen Durst. Vielleicht hätte er an den Verpflegungsstellen zugreifen sollen. Aber da er sonst ja auch immer ohne Trinkflasche laufen ging, war es ihm gar nicht in den Sinn gekommen, die 10 Kilometer nicht ohne Verpflegung überstehen zu können. Das schien sich jetzt zu rächen. Der erste Läufer überholte ihn schon wieder.
Komm schon, dachte Humboldt, den letzten Kilometer schaffst du jetzt auch noch. Noch einmal mobilisierte er alle Kräfte und versuchte, das Durstgefühl zu ignorieren. Auf dem langen Weg, der wenigstens von hohen Bäumen gesäumt war, wäre er am liebsten rechts abgebogen, denn dort lag das Ziel. Allerdings musste er noch eine letzte Schleife laufen, um dann an einem riesigen Schaufelrad, das an vergangene Grubezeiten erinnerte, vorbei einen kleinen Anstieg zu nehmen und dann bergab ins Ziel zu gelangen.
„Ja, Humboldt, das sieht klasse aus! Du hast es bald geschafft! Siehst du den Läufer da vorn? Das müsste Platz 5 sein! Vielleicht kriegst du ihn noch“, brüllte Christin sich durch die Menschenmengen.
Keine Chance, dachte Humboldt. Eher falle ich auf der Stelle um und trinke einen Eimer Wasser leer. Aber dann tat ihm Christin leid und er versuchte, noch einmal zu beschleunigen. Doch auch wenn der Kopf die Befehle dazu gab, die Muskeln in den Beinen hatten schon längst abgeschaltet. Mit letzter Willenskraft schaffte er es bis ins Ziel. Nie wieder würde er sich zu so etwas überreden lassen. Wie gut taten doch da entspannte Klettertouren oder ein Läufchen nach der Arbeit.
„Du bist super gelaufen“, begrüßte ihn Christin, als sie bei ihm ankam. Sie legte ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn auf den Mund.
„Wasser oder Bier?“, fragte Bernd, der sich zu ihnen gesellt hatte. Auch Andrea stand nun strahlend bei ihnen.
„In der Reihenfolge“, antwortete Humboldt und kippte den Becher mit Wasser in einem Zug hinunter. Dann schnaufte er kräftig. „Das war so unglaublich heiß, das könnt ihr euch nicht vorstellen.“

Während sie noch gemütlich beisammen saßen und allmählich an den Aufbruch dachten, tippte jemand von hinten auf Humboldts Schulter. Er schnellte herum und schaute in das verschwitzte Gesicht eines Polizeibeamten.
„Herr Humboldt?“, fragte er. Etwas Gehetztes lag in seinen Augen.
„Ja?“, fragte Humboldt und stand auf.
„Gut, dass Sie noch da sind. Wir haben einen toten Wettkämpfer auf dem Hochwald. Ich habe Sie schon die ganze Zeit versucht anzurufen, aber bei dem Lärm werden Sie es nicht gehört haben.“
Fast hätte Humboldt als erste Reaktion sein Handy gecheckt, aber es war jetzt eigentlich unwichtig, ob die Anrufe eingegangen waren. „Was ist mit meiner Kollegin Mahler aus Görlitz? Die ist doch hier zuständig“, antwortete Humboldt. Dabei schob er den Beamten aus der Menschenmenge im Zelt heraus, um ihn besser verstehen zu können. Sofort knallte die Sonne wieder auf seinen Kopf. Also ging er weiter, um sich in den Schatten eines Baumes zu stellen.
„Kriminalhauptkommissarin Mahler hat sich gestern das Bein gebrochen und der Oberkommissar Franz ist derzeit im Urlaub“, antwortete der Beamte schnell. Er hatte seine Mütze vom Kopf gezogen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wir hätten also sowieso Sie von Dresden rufen müssen.“
„Okay, ich hole meine Sachen und dann können wir los. Sind Sie mit dem Auto da?“, fragte Humboldt und machte sich schon auf den Weg zu seinen Freunden.
„Ja, ich stehe auf dem Campingplatzparkplatz.“ Der Beamte hastete hinter Humboldt her.
„Doch nicht nur ein Schwächeanfall“, sagte Humboldt den anderen, die ihn erwartungsvoll ansahen. „Ein Toter auf dem Hochwald. Ich schau mir das mal an. Wollen wir uns später bei Christin treffen? Ihr könnt ja noch ein bisschen bleiben.“
„Und wie kommst du wieder nach Hause?“, fragte Christin und sprang auf. „Ich komme mit.“
„Und Andrea und Bernd laufen heim?“, fragte Humboldt grinsend. Es war ihm klar, dass Christins Journalistinnenneugier geweckt war. Aber sie hatte jetzt nichts dort zu suchen. Jedenfalls noch nicht.
Christin hatte sich wieder gesetzt. „Stimmt, ich hatte vergessen, dass wir alle zusammen gefahren sind. Ich hole dich später ab, ja? Sag mir Bescheid, wo ich dich finde.“
Humboldt spürte ihre Enttäuschung. Darauf konnte er jetzt aber keine Rücksicht nehmen. Eilig lief er mit dem Beamten davon.
Kurz darauf fuhren sie mit dem Kleinwagen über einen holprigen Waldweg Richtung Gipfel des Hochwalds. Hier waren noch vor ein paar Stunden die Teilnehmer der O-See-Challenge mit dem Rad heruntergebrettert.
Als es immer unwegsamer wurde und Humboldt schon befürchtete, dass sie gleich stecken bleiben würden, stoppte der Beamte.
„Dort hinten, sehen Sie?“, sagte er kurz und sprang aus dem Wagen.
Humboldt tat es ihm gleich. Hier im Wald war die Hitze erträglich; als er jedoch im Laufschritt hinter dem Beamten herlief, spürte er sofort, wie sich der Schweiß an den dafür bekannten Körperstellen sammelte. Kurz dachte er noch, dass er sicherlich keinen angenehmen Duft verströmte, da er nach seinem Lauf noch nicht einmal duschen gewesen war, aber da war er auch schon an der Fundstelle der Leiche angekommen.
„Humboldt, Kripo Dresden“, begrüßt er den Arzt, der seinen Koffer gerade schloss.

 

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