Ein ungewöhnlicher Drehtag in der Energiefabrik Knappenrode.
Erzählt von Sylvia Mönnich
Als ich die Geschichte meiner Eltern in meinem Erstlingswerk „Vertrieben und dann?“ zu Papier gebracht habe, ahnte ich nicht, dass sich so viele Menschen für das Schicksal der Ungarn-Deutschen und Schlesier als Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg interessieren werden. Meine Mutti war zehn Jahre alt, als am 25. August 1947 Stiefel gegen die Tür traten und die ungarn-deutsche Familie Hals über Kopf ihr Zuhause verlassen musste.
Der 29. Juni 1948 – Tag des Hochfestes der katholischen Kirche zu Ehren der Apostel Peter und Paul – brachte auch meinem Vati kein Glück. Seine Mutter hatte gerade die Wäsche im Bottich eingeweicht. Das kümmerte die Befehlshaber, die an die Wohnungstür wummerten, nicht. Innerhalb von drei Stunden mussten sie abholbereit sein und ihr geliebtes Schlesien Richtung Deutschland verlassen. Ihre wenigen Sachen nahmen sie nass mit, andere hatten sie nicht.
Im Jahr 2023 gibt es nicht mehr viele Zeitzeugen, die aus eigener Erfahrung über die Vertreibung der seit dem 18. Jahrhundert in Ungarn ansässigen Deutschen berichten können. Elisabeth ist eine davon und freut sich, dass der Landesverbands-Vorsitzende der Vertriebenen und Spätaussiedler in Sachsen, Frank Hirche, sie gebeten hat, ihre prägenden Erlebnisse aus vergangenen Tagen in Form eines kleinen Filmbeitrages der Öffentlichkeit mitzuteilen.
Klappe, die Erste!
Elisabeth ist 86 Jahre alt. Sie hat sich schick angezogen und überprüft noch einmal den Sitz ihrer Frisur. Keiner soll ihr ansehen, wie aufgeregt sie ist. Noch nie in ihrem Leben hat sie mit einem professionellen Filmteam zusammengearbeitet.
Das eigens für die Aufnahmen mit Elisabeth eingerichtete Filmstudio in der Energiefabrik Knappenrode ist abgedunkelt. Die Kameraleute haben Platz genommen und richten ihre Scheinwerfer auf den Stuhl, auf dem sie gleich sitzen wird. Die TV-Produzentin Britta Walter beruhigt Elisabeth. Sie solle mit ihren eigenen Worten über die Vertreibung, aber auch die Ankunft und Integration in Deutschland berichten.
„Frau Bartsch, wie haben Sie die Vertreibung als Kind erlebt?“, fragt die Produzentin.
Elisabeth faltet die Hände im Schoß und denkt nach. Längst hat sie mir von ihrer Kinderzeit und dem Schockerlebnis der Vertreibung erzählt. Und trotzdem ist es für sie etwas ganz anderes, die Tatsachen in einem Interview vor einem professionellen Kamerateam zu wiederholen und zu wissen, dass ihre Worte im Transferraum Heimat der Energiefabrik Knappenrode für ein breites Publikum zu hören sein werden.
Sie beginnt: „Ich wurde in Felsönána geboren als Elisabeth Schmidt. Wir haben eine Bauernhof betrieben, hatten ganz viele Hühner, auch Gänse und Enten, eben eine richtige Bauernwirtschaft, auch Felder … Unsere fünf Weingärten waren ganz schön weit entfernt und dort bin ich mit meiner Oma und meiner Mutti immer hingelaufen. Überhaupt sind wir sehr viel gelaufen.“
Elisabeth macht Pause und denkt an den Tag im August, der ihr Leben auf den Kopf stellte. Sie wird nie vergessen, wie sie vertrieben wurden, aber es fällt ihr nicht leicht, das Ereignis in Worte zu fassen.
„Es war der 25. August 1947 und es geschah von jetzt auf gleich. Wir haben vorher nichts gewusst. Ein Jahr zuvor, so um Weihnachten herum, sprach man mal davon, aber dann war das passé.“
Nachdenklich senkt Elisabeth den Kopf, bevor sie fortfährt:
„Ich war zehn Jahre und es wummerte an der Tür. Eine Klingel hatten wir nicht. Raus hieß es, alles zusammenpacken. Das Bettzeug war den Eltern und Großeltern wichtig, weil niemand wusste, wo es hingeht. Nach zwei Stunden stand der LKW auf der Straße, auf den wir die Sachen laden mussten. Das war nicht einfach.“
Britta Walter ermutigt Elisabeth, sich Zeit zu lassen.
„Wir besaßen eine Truhe, in die wir unsere Sachen steckten. Mein Opa war blind und deshalb stellten wir einen Stuhl auf die Ladeklappe. Den haben sie wieder runtergeholt, bis sie bemerkten, dass der Großvater ihn wirklich brauchte. Der LKW war voll mit Menschen und fuhr wie der Teufel. Wir saßen auf unseren Bündeln und die Akazienzweige der Straßenbäume schlugen uns ins Gesicht. Als Kind hatte ich wahnsinnige Angst, runtergerissen zu werden.“
Britta Walter stellt viele Fragen. Elisabeth taucht in ihre Erinnerungen ein und möchte noch vieles berichten. Doch für alles reicht die Zeit nicht. Schnell sind 90 Minuten vergangen, die zu einem kleinen Beitrag zusammengeschnitten und auf den Monitoren der Energiefabrik zu sehen sein werden.
Es berührt mich tief, dass Geschichte weiterlebt. In Sachsen hält der Landesverband der Vertriebenen und Spätaussiedler das Andenken der nach dem Krieg der Heimat Verwiesenen hoch. Der Landesverband Sachsen und sein Vorsitzender, Frank Hirche, errichteten im Jahr 2020 im ehemaligen Empfangsgebäude der Energiefabrik Knappenrode eine Bildungs- und Begegnungsstätte mit dem würdevollen Namen „Erinnerung, Begegnung, Integration – Stiftung der Vertriebenen im Freistaat Sachsen“. Im Transferraum Heimat können sich Jugendliche und Schulklassen informieren und in unserer schnelllebigen Zeit auch die Berichte der Zeitzeugen anhören. Den Ausstellungsteil „Ankunft, Aufnahme und Integration nach 1945“ ergänzen Themeninseln zu den Gebieten Heimat, Bildung und Tradition.
Am 10. September 2023 begehen die Sachsen traditionell den sächsischen Gedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung nach dem Zweiten Weltkrieg in der Gedenkstätte Knappenrode. Meine Eltern werden dabei sein und Mutti wird ihr eigenes Interview an den Monitoren des Ausstellungsraumes verfolgen können. Gerne gibt sie allen Interessierten Auskunft auf ihre Fragen zum damaligen Geschehen. Denn obwohl sie noch ein Kind war, haben sich die Tage, Wochen und Monate danach tief in ihr Gedächtnis eingebrannt.