Wir alle erleben Zeiten, in denen es uns schwerfällt, mit Unsicherheiten und Problemen fertig zu werden.
Da wünscht sich wohl mancher einen guten Rat, eine hilfreiche Hand oder … Besuch aus Leichtland.
Von dort kommt die kleine Königin, und sie hat sich zum Ziel gesetzt, den Menschen zu zeigen, was man bei ihr zuhause tut, damit Schweres ein bisschen leichter wird.
Der Besuch der kleinen Königin
Ich begegnete der kleinen Königin zum erste Mal am Abend eines Sommertages.
Es war ein schwieriger Tag gewesen. Nicht, dass die vorigen leicht gewesen wären. Nur fühlte es sich an diesem Abend an, als würde der berüchtigte Tropfen über einem bis zum Rand gefüllten Fass schweben. Ich war aus der Wohnung ins Freie geflüchtet, sog vor der Haustür die frische Luft ein und hoffte, sie würde die Unruhe beim Ausatmen mit nach draußen nehmen. Tief und ruhig atmen, das hatte manchmal geholfen. Diesmal nicht. Ich war so unzufrieden mit mir, dass es beinahe weh tat. Was war nur los? Seit Monaten schien sich irgendetwas in mein Leben einzumischen. Es war mir fremd und machte mich rastlos. Immer hatte ich geglaubt, mein Leben im Griff zu haben. Und doch … da waren Gedanken, die mich nicht in Ruhe ließen und mich verunsicherten.
Und nun auch noch das: eine Entscheidung lag vor mir. In einer Woche musste ich sie treffen und fühlte mich damit völlig überfordert. Ich hatte begonnen, Fakten zu sammeln, Expertenmeinungen eingeholt und meine Bekannten konsultiert. Hier wie da: gute Ratschläge und Meinungen, die weit auseinandergingen. Mit meiner Unruhe war der Ärger über meine Unzulänglichkeit gewachsen. Jetzt kam Angst dazu. Was, wenn ich mich falsch entschied? Ich wusste genau, dass ich in dieser Nacht nicht gut schlafen würde. Der Tag wich der Dämmerung und ich war nahe daran, zu verzweifeln. Warum musste das Leben so kompliziert sein? Ich fand keine Antwort darauf.
Gerade wollte ich wieder hineingehen und meinen Kummer im Schutz der Wohnung hüten, da begann die Straßenlaterne ihren Nachtdienst und leuchtete auf. Der Lichtkegel umhüllte ein Stück des Vorgartens und rückte die alte Bank neben dem Fliederbusch in mein Blickfeld. Das erschien mir wie ein Zeichen. Ich drehte um und ließ mich auf dem rauen Holz nieder. Seufzend lehnte ich mich an die Hauswand, deren Steine Sonne getankt hatten und mir den Rücken wärmten. Ein kurzes Wohlgefühl – dann stand die Frage wieder breit und mächtig vor mir. Wie sollte ich mich entscheiden? Ein weiteres Mal ging ich meine „Vor- und Nachteil-Liste“ durch.
Ein eigentümliches Funkeln lenkte mich ab. Zwischen den blühenden Ranken, die sich vor mir am Zaun hinauf wanden, glitzerte etwas. Hatte jemand ein Schmuckstück verloren, das in den Pflanzen hängen geblieben war? Ich beugte mich nach vorn und erstarrte, ungläubig staunend über das, was ich entdeckt hatte.
Eine kleine Gestalt in samtig grünem Kleid trat zwischen den Blumenstängeln hervor und rückte ihre winzige Krone zurecht.
An Wunder hatte ich nie geglaubt. Nun stand eines vor mir. Sprachlos musterte ich das anmutige Wesen, das sein Köpfchen hob, um mich anzusehen.
„Wer bist du?“, flüsterte ich.
„Wie sehe ich denn aus? Wie eine kleine Königin?“, fragte die kleine Gestalt fröhlich und antworte gleich selbst. „Genau das bin ich. Schön, dass wir uns begegnen. Darf ich dir Gesellschaft leisten?“
„Natürlich!“, antwortete ich verwirrt. „Aber wenn du eine Königin bist, hast du sicher Wichtigeres zu tun.“
Sie sah mir in die Augen und gab zurück: „Warum glaubst du, dass du nicht wichtig genug bist?“
„Ich bin nichts Besonderes und du bist ein Wunder“, sagte ich stockend. „Wie sollte ich deine Aufmerksamkeit verdienen?“
Diese Frage schien ihr nicht zu gefallen. „Verdienen.“ Sie machte eine verächtliche Handbewegung. „Was seid ihr Menschen manchmal für …“. Sie stöhnte. „Dummköpfe wollte ich eigentlich nicht sagen, aber das trifft es wohl am besten.“ Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund. „Ich will dich nicht verletzen. Aber glaubst du wirklich, ich würde bei dir meine Zeit verschwenden?“
Ich zuckte mit den Schultern. Dann murmelte ich: „Keine Ahnung, aber ich fürchte, ich bin heute kein ein angenehmer Gesprächspartner.“
„Wenn du meinst“, kam aus der Rabatte, in der die kleine Königin verschwunden war. Ich befürchtete schon, dass meine mangelnde Begeisterung sie vertrieben hätte. Doch da sah ich, wie sie an einem dicken Stängel nach oben stieg und die abzweigenden Blüten und Blätter wie eine Leiter benutzte. Sie ließ sich mir gegenüber auf einem herzförmigen Blatt nieder und ließ die Beine über den Rand hängen.
„Jetzt sehen wir uns besser“, sagte sie und lächelte mich an. „Warum glaubst du, dass heute nicht der richtige Tag zum Plaudern ist?“
„Mir geht so vieles durch den Kopf. Manchmal weiß ich nicht mehr, wer ich bin und was ich eigentlich will. Zu allem Unglück habe ich heute erfahren, dass ich in ein paar Tagen eine wichtige Entscheidung treffen muss. Je länger ich überlege, um so unsicherer werde ich. Das ist frustrierend.“
Ich stöhnte, dann gab ich mir einen Ruck. Da saß ein Wunder vor mir, eine kleine Königin, und bot mir eine Unterhaltung an und mir fiel nichts als Jammern ein. Das durfte nicht sein. Der kleine Gast in meinem Vorgarten verdiente mehr Aufmerksamkeit. Ich beschloss, mich zusammenzureißen.
„Willst du mir erzählen, wo du wohnst?“
„Gern“, sagte sie. „Ich komme aus Leichtland. Das ist gleich nebenan.“ Die kleine Königin suchte nach den richtigen Worten. „Es lässt sich nicht einfach beschreiben. Vielleicht so: nebenan bedeutet neben deiner Welt. Ganz nah, aber doch nicht sichtbar für euch.“
Ich staunte: „Leichtland? Wie ist es dort? Leicht? Dann lässt es sich gut bei euch leben.“
„Gut leben? Das stimmt. Und leicht? Ja und nein“, rief sie und schaukelte mit den Beinen, dass das Blatt zu schwingen begann.
„Wie meinst du das?“, wollte ich wissen.
„Leichtigkeit ist unser Lebensmotto. Es gibt Vieles, was bei uns leicht ist und genauso gibt es allerhand Schweres. Doch in Leichtland strebt jeder danach, Schweres leicht oder zumindest leichter zu machen. Wir sind Spezialisten darin.“
Ich wurde nicht fertig mit Staunen.
„Warum bist du dann hier?“, fragte ich.
„Weil ich gern reise. Und schließlich braucht jeder ab und zu eine besondere Herausforderung, nicht wahr? Hier, in eurer Welt, gibt es genug Aufgaben für mich.“
Ehe ich nachfragen konnte, schlug sie vor: „Soll ich dir erzählen, wie ich Königin geworden bin?“
Ich nickte. Meine Neugier war erwacht.
„Königin zu werden ist nicht schwer. Ich habe mir ein Kleid genäht, ein besonders hübsches. Es passt mir gut und im Übrigen passt es auch gut zu mir. Ich fühle mich darin wohl und schön. Dazu habe ich einen passenden Umhang gewählt. Wegen der Würde, weißt du?“ Verschmitzt sah sie mich an. „Und? Was fehlt noch?“
Ich zeigte lächelnd auf ihren Kopfschmuck.
„Genau! Das war dann schon alles. Mehr braucht es nicht.“ Die kleine Königin nahm ihr Krönchen ab und wischte mit dem samtenen Stoff ihres Umhangs über die glitzernden Steine.
„Die sind sicher kostbar“, warf ich ein, doch sie erklärte: „Darauf kommt es nicht an. Eine Krone dient vor allem dazu, den, der sie trägt, zu einem aufrechten Gang zu verleiten, ihn aufzurichten eben. Dabei darf sie ihn natürlich auch schmücken. Wie du siehst, die ganze Sache ist ziemlich leicht. Ich verstehe nicht, warum sich hier niemand darum kümmert. Bei euch gibt es doch eine Menge Stoff und Schmuck.“
„Wie stellst du dir das vor?“, unterbrach ich sie. „Man kann hier nicht einfach König oder Königin werden.“
„Warum nicht?“
Ich schüttelte den Kopf. „Selbst wenn ich mich so kleiden würde, ich hätte kein Reich über das ich verfügen könnte, keine Zeitspanne zum Regieren …“
Mein kleiner Gast nickte ungeduldig. „Ich weiß. Vielleicht fehlt euch Menschen ein bisschen Fantasie. Wenn du einmal in dich gehen würdest, könntest du entdecken, dass du ‚reicher‘ bist, als du glaubst. Du hast innen drin und um dich herum ein eigenes Reich. Stell dir vor, die Hauptstadt ist in deinem Herzen und dein Reich dehnt sich aus bis zu deiner Familie, zu deinen Freunden und Nachbarn. Mit jedem, den du triffst, wo immer du hinkommst, wird es größer und größer.“ Die kleine Königin hob den Zeigefinger, um ihre Worte zu unterstreichen. „In diesem Reich gibt es für dich sicher etwas zu regieren.“
Mein Widerspruch kam umgehend: „Und wenn ich noch so gut regiere, wie die Tage aussehen, wird vom Leben bestimmt, vom Schicksal!“
„Aber das ist es ja! Sobald du eine Königin bist, kannst du ein bisschen daran drehen“, versicherte mein kleiner Gast.
Ich ließ mich nicht so leicht überzeugen. „Bei dir klappt das vielleicht, bei mir nicht.“
Die kleine Königin war hartnäckig: „Du willst also nicht einmal wissen, wie ich das mache, dieses ‚ein bisschen daran drehen‘?“
„Doch“, gab ich kleinlaut zu.
„Ich verrate es dir.“ Sie beugte sich mir entgegen und sagte eindringlich: „Ich gebe den Tagen einen Namen.“ Sie breitete die Arme aus und bestätigte: „Schließlich habe ich als Königin das Recht dazu.“ Mit großen Augen wartete sie auf meine Reaktion.
„Aha!“, antwortete ich, wenig begeistert. „Das soll helfen?“ Ich hatte etwas anderes erwartet, etwas Ausgefallenes, Spektakuläres.
„Ob du es glaubst oder nicht“, setzte sie mit Nachdruck hinzu, „danach ist der Tag nicht mehr derselbe.“
Enttäuscht lehnte ich mich zurück. „Meine Tage haben bereits Namen: Montag, Dienstag, Mittwoch …“, zählte ich leicht genervt auf. „Manche haben sogar Doppelnamen: Freitag der Dreizehnte, Volkstrauertag, Totensonntag, Aschermittwoch. Außerdem … ist es nicht egal, wie sie heißen, wenn sie einfach nur schwierig sind?“
„Ich muss dir wohl auf die Sprünge helfen“, erwiderte die kleine Königin und klatschte energisch in die Hände. „Überlege dir mal ein paar erbauliche Worte.“
Ahnungslos sah ich sie an. “Erbaulich?“
„Ja! Worte, mit denen man sich wohl fühlt“, erklärte sie, „so wie ‚Glück‘ oder ‚Mut‘.“
Ich versuchte mein Bestes, doch meine Stimme klang lustlos: „Schaffenskraft?“
„Genau so etwas meine ich.“ Die kleine Königin strahlte. „Meinen Tag hab ich heute Morgen zum ‚Tag der Hilfsbereitschaft‘ ernannt. Deshalb habe ich dich gefunden. Weil ich dir helfen will.“
„Du meinst, sonst wärst du gar nicht hier?“
„Sicher nicht. Ein Tag scheint zu spüren, wie man ihn nennt. Ich kann dir nicht erklären, wie das funktioniert, aber ich habe es ausführlich getestet.“
Die kleine Königin hatte die letzten Sätze so überzeugend hervorgebracht, dass ich schmunzeln musste.
Aus: Eva Mutscher, Der Besuch der kleinen Königin
© 2021 Verlag am Eschbach, Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern
ISBN-10 : 3869179120 ISBN-13 : 978-3869179124