Die Geschichte „Großer Glanz und kleines Funkeln“ schaut mit einem Augenzwinkern auf eine weit verbreitete Tradition – den Weihnachtsmarkt. Vielerorts laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren.
Ich liebe diese Stimmung, den Duft, die Musik, die köstlichen Leckereien … Ab und zu blitzt da aber ein Gedanke auf: Bleibt bei all dem Trubel noch Platz für Besinnlichkeit?
Großer Glanz und kleines Funkeln – eine Weihnachtsmarktgeschichte
Der Herbst neigte sich dem Ende entgegen und die Leute in der kleinen Stadt waren unzufrieden. Die zeitige Dämmerung schlug ihnen aufs Gemüt, genau wie der Nieselregen. Sie sehnten die frohe Stimmung im Advent herbei, doch bis dahin dauerte es noch einige Wochen.
Als der Bürgermeister wegen Amtsgeschäften in der naheliegenden Großstadt weilte, staunte er über die Vorbereitungen für den dortigen Weihnachtsmarkt. Es sei nötig, früh zu beginnen, erklärte ihm sein Amtskollege, denn der Markt solle sich nicht nur über einen Platz erstrecken. In diesem Jahr würde er sich bis in die angrenzenden Straßen ausdehnen. Auch der zeitliche Rahmen werde erweitert, erfuhr das Oberhaupt der Kleinstadt, damit sich der Aufwand lohne.
Angesteckt vom Vorbereitungsfieber kehrte der Bürgermeister zurück und rief eine Ratsversammlung ein.
„Wie wäre es, wenn wir in diesem Jahr einen Weihnachtsmarkt organisieren? Einen großen!“
„Gibt es nicht genug Weihnachtsmärkte in jeder umliegenden Stadt? Warum noch einen?“
Sein Vorschlag stieß nicht auf die erwartete Begeisterung.
„Wir haben unseren kleinen Markt, am vierten Advent“, kam der nächste Einwurf.
„Ich spreche von einem richtigen Weihnachtsmarkt“, entgegnete der Bürgermeister. „Nicht von den drei Tischen vor unserem Kirchlein und dem Flötengepiepse. Es gibt jetzt so viele Möglichkeiten.“
Eine Weile herrschte Stille im Ratssaal, nur ein paar Stifte klapperten auf dem Eichentisch. Während der Pfarrer zweifelnd den Kopf schief legte, begann bei den anderen Teilnehmern der Sitzung bereits ein Umdenken.
„Nun ja, wir könnten wohl etwas Schwung in unserem Städtchen gebrauchen“, ließ sich die Bankdirektorin vernehmen. „Aber es müsste etwas Besonderes sein!“
Das Stirnrunzeln des Pfarrers stachelte ihren Ehrgeiz an. „Schließlich ist doch das Weihnachtsfest auch ein besonderes Fest, oder nicht, Herr Pfarrer?“
„Das ist es, in der Tat, doch …“
„Ein glänzender Markt für ein glänzendes Fest!“, fiel der Bürgermeister dem Pfarrer ins Wort.
Die Ratsmitglieder wurden lebhaft und brachten erste Vorschläge auf den Tisch.
„Ich weiß, was wir brauchen! Eine Tanne, die größer ist als …“
„Und eine riesige Pyramide, mit elektrischen Kerzen und einem Motor, der sie dreht.“
Der Bäckermeister grübelte, auf welche Weise er sich einbringen könne und verkündete:
„Ich werde meine Gesellen zu ein paar Zusatzschichten verpflichten. Wir werden eine Überraschung präsentieren, die ihres Gleichen sucht.“ Er schaute mit geheimnisvollem Gesicht in die Runde, dann rieb er sich die Hände. „Na gut! Ich weihe euch in meinen Plan ein. Ich werde einen Stollen backen.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „So an die fünf Meter, dachte ich. Das macht uns so schnell keiner nach.“ Mit ausgebreiteten Armen veranschaulichte er das Bild, das er vor Augen hatte.
Der Bürgermeister staunte nicht weniger als die anderen.
Angespornt von der Idee tat der Schulleiter kund, er werde seine Beziehungen spielen lassen und einen professionellen Chor engagieren, denn der hiesige Heimatchor würde für diesen Weihnachtsmarkt genau so wenig taugen wie das Flötenensemble. Auf die Choreographie käme es an, betonte er und auf ein modernes Bühnenbild. Vielleicht ein wenig in Richtung Soul und Pop?
Händeringend überlegte der Pfarrer, wie er das der Kantorin und ihren Schülern beibringen solle.
Die anderen Ratsmitglieder nickten jedoch überzeugt und gingen noch einen Schritt weiter. Auch zwischen den Auftritten der Künstler müsse eine musikalische Beschallung über Lautsprecher erfolgen. Schließlich solle man schon von Weitem hören, dass etwas los sei.
Der Elektriker meldete sich und schlug vor, die üblichen Lichterketten wegzulassen und durch Sterne zu ersetzen, die farbig und im Sekundentakt blinkten. Das gäbe doch ein ganz anderes Bild.
Bis nach Mitternacht wurden Listen geschrieben und Aufgaben verteilt. Endlich machte man sich auf den Heimweg, durchdrungen vom Wunsch, dem Weihnachtsfest mit diesem Markt einen besonderen Stellenwert zu geben. Der Bürgermeister schloss erschöpft und glücklich die Rathaustür. Dieses Vorhaben würde sein Glanzstück werden.
In der Backstube erhielt der Tatendrang des Bäckers einen Dämpfer, denn seine Frau sah dem Stollenprojekt skeptisch entgegen.
„Haben wir in der Adventszeit nicht genug zu tun? Denk an die Pfefferkuchenmänner und die Zimtsterne. Wer braucht schon fünf Meter Stollen?“
„Vergiss das ganze Kleingebäck! Das hatten wir doch jedes Jahr! Aber der Stollen! Der wird uns bekannt machen! Die aus der Großstadt werden staunen.“
Die Bäckersfrau zuckte mit den Schultern.
Die Plakate, vom Gemeindesekretär verteilt, riefen zur Mithilfe bei der Gestaltung des prächtigsten Weihnachtsmarktes auf, den die kleine Stadt je gesehen hatte. In der Hoffnung, das kleinstädtische Einerlei zu unterbrechen, begeisterten sich Viele für die Idee.
Doch nicht jeder ließ sich vom Vorbereitungsrausch mitreißen. Großmutter Else, die seit Jahrzehnten gestrickte Jacken und Mützen zum Verkauf anbot, hatte eine Abfuhr erhalten, als sie erwähnte, dass sie wie jedes Jahr dabei sein wolle. Ebenso ging es dem Schnitzer mit seinem Spielzeug aus Holz. Für Stände dieser Art sei kein Platz, hieß es im Büro des Bürgermeisters. Die Fläche werde für Bratwurststände und Karussells gebraucht. Nein, auch die Gemüsehändlerin könne ihren Apfelpunsch zu Hause lassen, diesmal gäbe es Glühwein in acht Geschmacksrichtungen.
Elses Enkelkinder, Emil und Paula, kannten ihre Großmutter kaum wieder, so niedergeschlagen war sie.
„Was ist los mit dir?“, fragte Emil, als sie traurig ihr Strickzeug weglegte.
„Ach Junge, wozu soll ich stricken? Es wird ja keiner kaufen, wenn ich es nicht anbieten kann.“
„Deine Sachen gehen doch beim kleinen Weihnachtsmarkt weg wie warme Semmeln!“, tröstete Paula.
Die Großmutter seufzte: „Das ist es ja. In diesem Jahr ist alles anders, und größer, und trotzdem ist für mich kein Platz.“
Die Kinder schauten die Großmutter ungläubig an. „Es war doch immer schön!“
„Darüber denken einige Herren und Damen anders. Stellt euch vor, dort, wo jedes Jahr eure Eisbahn war, kommt ein Parkplatz hin. Angeblich werden massenweise Leute aus der großen Stadt zu uns kommen und die brauchen Platz für ihre Autos.“ Sie schüttelte resigniert den Kopf. „Der Bürgermeister lässt sogar eine Wendeschleife für Reisebusse bauen.
Emil und Paula stampften wütend auf.
In der Nachbarschaft kramte die Kantorin in ihrem Notenschrank und wandte sich an ihren Mann.
„Ich muss unbedingt das Programm für das Adventssingen schreiben. Es wird höchste Zeit, mit den Proben zu beginnen.“
„Ich glaube, das wird nicht nötig sein“, druckste er herum. „Ich habe gehört, dass es in diesem Jahr einen …“, er wusste kaum, wie er sich ausdrücken sollte. „… ‚richtigen‘ Chor gibt.“ Als er das fassungslose Gesicht seiner Frau sah, strich er über ihren Arm. „Und das ist nicht alles. Der Bürgermeister lässt anfragen, ob wir uns nicht um die Beherbergung der zwanzig Sänger kümmern können. Nur für ein paar Tage.“
Die hochfliegenden Pläne hatten einen Großteil der Leute in euphorische Stimmung versetzt, andererseits war es auch in keinem Jahr zuvor so hektisch zugegangen. Lange vor dem ersten Advent gab es kein anderes Thema mehr als die Höhe der Tanne, den Blinkrhythmus der Lichter, die Drehgeschwindigkeit der Pyramide, die Verträge mit teilnehmenden Künstlern und Genehmigungen jeglicher Art.
Die triumphale Aussicht, allen Nachbarorten zu zeigen, was eine kleine Stadt drauf hatte, sorgte bei jeder Herausforderung für einen neuen Energieschub. Deshalb nahm keiner der Beteiligten die Erschöpfung wahr, die bald von einer steigenden Anspannung begleitet wurde. Die meisten von ihnen verwechselten dieses Gefühl sogar mit Vorfreude.
Aus: Eva Mutscher, Großer Glanz und kleines Funkeln – Eine Weihnachtsmarktgeschichte
© 2021 Verlag am Eschbach, Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern
ISBN-10 : 3869178671 ISBN-13 : 978-3869178677