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Der Kofferfahrer

von | 5. April 2024

Es war Urlaubersaison im Zittauer Gebirge, zu Tausenden strömten die Feriengäste auch nach Jonsdorf. Anfang der siebziger Jahre kamen viele der Erholungssuchenden noch mit Bahn oder Bus. Die meisten von ihnen waren FDGB-Urlauber, im Volksmund „Effer“ genannt.

Immer dienstags war Anreise. Ein Tag, der für die zwölf- bis vierzehnjährigen Jungs einen kleinen Verdienst versprach. Mit Leiterwagen oder anderen Handwagen platzierten wir uns auf dem Vorplatz des Jonsdorfer Bahnhofes und warteten auf den ersten Nachmittagszug mit vielen Feriengästen.

Endlich hörten wir das Bimmeln der Zittauer Schmalspurbahn, das Schnaufen der Lock, das Zischen und Quietschen der Bremsen beim Einfahren in den Bahnhof. Neugierig reckten wir unsere Hälse nach oben, um möglichst die interessantesten Gäste zu entdecken. Am geeignetsten schienen Pärchen ohne Kinder. Die hatten nicht so viel Gepäck und gaben meist das beste Trinkgeld. Viele von ihnen waren in Privatquartieren untergebracht. Man bot den Gästen also an, deren Gepäck in das Urlaubsquartier zu befördern. Viele Urlauber nahmen dankend an und waren froh, ihre Koffer nicht selbst schleppen zu müssen. Als zusätzlicher Pluspunkt erwies sich dabei, dass alle Kofferfahrer genau wussten, wo sich die entsprechenden Ferienquartiere befanden. Die Höhe des Verdienstes hing von der Gunst der Urlauber ab. Feste Preise kannten die Kofferjungen nicht. Auch wussten sie vorher nicht, wessen Koffer sie wohin transportieren würden. Befand sich das Ferienzimmer beispielsweise auf dem „Lindenweg“, in der „Straße der Jugend“ oder der „Kleinen“ und „Großen Seite“, war es kein weiter Weg, dann hatte man Glück.

An diesem Dienstag, kurz vor den Sommerferien hatte mein Freund Karl-Heinz kein Glück. Das ältere Ehepaar, dem er seinen Dienst angeboten hatte, kam aus Frankfurt/ Oder. Der erste Schock, das Quartier befand sich im Kroatzbeerwinkel, fast zwei Kilometer weit entfernt. Der nächste Schock, die alten Leute hatten ein Enkelkind dabei, ein etwa vierjähriges quengelndes Mädchen mit Rotznase, schwarzen, langen Zöpfen und einer schrecklich grellen Stimme.

Der alte Leiterwagen wurde mit zwei Koffern, einer Tasche und dem Campingbeutel der rotznasigen Nervensäge vollgepackt. Los gings. Immer leicht bergauf, das ließ sich ziehen. Die Sonne, die sich ganz ohne Wolken am strahlend blauen Himmel vergnügte, setzte Karl-Heinz zusätzlich zu. Es war unerträglich heiß. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht und den Rücken hinunter. Schon in Höhe von Schreiber-Malers Haus, nach gerade mal gut zweihundert Metern, hielt er an, um kurz zu verschnaufen. Schulze und seine Frau nutzten die Gelegenheit, um in die Reisetasche zu greifen, und einen Schluck Wasser zu trinken. Auch das Enkelkind wurde mit einem Schluck aus der Limonadenflasche versorgt. Karl-Heinz hatte keine Trinkflasche dabei, sein Mund blieb trocken. Die Kleine fing wieder an zu quengeln, sie könne nicht mehr laufen, und außerdem wolle sie einen Lutscher haben. Prompt parierte die schwitzende Großmutter und drückte ihrem Enkelkind einen Lutscher in die Hand. Herr Schulz stellte besorgt fest, dass es gar nicht gut sei, wenn ein Kind einen Lutscher im Mund habe, während es dabei die Straße entlanglaufe. Kurzerhand setzte er den Rotznasenlutscher mit auf den Leiterwagen: „Dat wirste schon schaffen, so‘ n süßed kleened Mädchen wiegt doch nich ville. So, jetzt sollte es weitergehen, wie weit isset denn noch?“ Karl-Heinz antwortete, während er ächzend am Leiterwagen hing: „Bestimmt noch eine halbe Stunde!“ Schulzes schauten sich gereizt an: „Wat, solange noch. Na det kann ja ‘n schöner Urlaub werden – am Arsch der Welt.“  Auf die Idee, Karl- Heinz schieben zu helfen, kam keiner der beiden. Endlich kam die Jugendherberge „Hilde Coppi“ in Sicht, das hieß, ab jetzt ging es ohne Steigung geradeaus. Trotzdem schwitzte Karl-Heinz unter der glutheißen Sonne und musste noch einmal anhalten. Schulzes Gemecker ging weiter: „Wat denn, schon wieder anhalten? Wir wolln in unser Ferienzimmer, uns ausruhen von der Reisestrapaze.“

„Schneller, schneller“, bläkte derweil die vom Lutscher verklebte Nervensäge oben auf den Koffern. Wortlos schindete sich Karl-Heinz mit dem voll beladenen Leiterwagen weiter in Richtung Kroatzbeerwinkel und hoffte auf eine angemessene Bezahlung, vielleicht zwei Mark oder wenigsten eine.

Er dachte an seine Schulfreunde, einige von ihnen waren bestimmt schon im Bad. Entfernt hörte er von unten auf der Straße das fröhliche Geschrei der Badegäste. Nun war es nicht mehr weit, bald hatte er es geschafft. Den Leiterwagen würde er beim Zurückfahren vor dem Bad bei den Fahrrädern abstellen. Das Geld, das er gleich bekommen würde, reichte mindestens für den Eintritt, ein paar Waffeln und möglicherweise sogar für ein Eis am Stiel.

Endlich hatten Karl-Heinz und seine Frankfurter „Taxigäste“ das Umgebindehaus, das für nächsten Tage das Urlaubsdomizil der Schulzes sein sollte, erreicht. „Watt denn, in so ‘ner Holzbude solln wa Urlaub machen?“, meckerte der arrogante Gast. „So, wat kriegste denn, Kleena?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, Karl-Heinz hätte sowieso keinen Preis genannt, drückte er dem verschwitzten und noch schwer atmenden Kofferfahrer, 20 Pfennige in die Hand. „Det wird wohl reichen“, grinste Schulze von oben herab. Seine Frau schnappte sich das vom Lutscher verklebte Enkelkind, Rucksack und Reisetasche und folgte der wartenden Gastgeberin ins Haus.

Karl-Heinz aber war entsetzt über die erbärmliche Bezahlung. Das sollte alles sein? Für diese Schinderei? Das war der Gipfel. Damit käme er noch nicht einmal ins Bad rein, geschweige denn reichte es für Waffeln oder Eis am Stiel kaufen. Voller Wut schlug er dem grinsenden Schulze das Geld aus der Hand. Der drehte sich sofort um und verfolgte mit großen, ungeschickten Schritten den erst fliegenden und dann rollenden Zwanziger. Schulze fiel auf die Knie und griff nach dem Geldstück, stieß es dabei aber an, sodass dieses bis zu einem eisernen Fußabstreicher vor dem Hauseingang weiterrollte, wo es durch ein Gitterfiel. Noch bevor Schulze das Gitter aus der Einfassung heben wollte, um nach dem Zwanzig- Pfennig-Stück zu suchen, musste er mit Entsetzen feststellen, dass der aufgebrachte und um angemessene Entlohnung betrogene Karl-Heinz, im Eilschritttempo mit dem Leiterwagen und den sich noch darauf befindlichen Koffern losrannte. Der wütende Schulze brüllte zuerst nach seiner Frau, dann nach Karl-Heinz. Es nützte nichts. Karl-Heinz rannte wie besessen mit dem Leiterwagen und den beiden Koffern die Straße hinunter, am Bad und der Jugendherberge vorbei, bis zum Bahnhof. Schulze konnte dieses Tempo nicht mithalten. Erst als Karl-Heinz die Koffer von seinem Leiterwagen lud, kam Schulze angeschnauft. Völlig erschöpft und verschwitzt keuchte er: „Bist du wahnsinnig? Was soll das denn?“

„Ich habe es mir anders überlegt, ich fahre Ihre Koffer doch nicht“, antwortete Karl-Heinz, ebenfalls außer Atem. Er warf Schulze einen bösen Blick zu, drehte sich um und ging nach Hause. Dort polkte er aus seiner Sparbüchse einen Fünfzig-Pfennig-Stück und radelte ins Bad.

Von seinen Schulfreunden lange erwartet, musste Karl-Heinz haargenau berichten, warum er zu spät ins Bad gekommen war. Die Jungs grölten und schlugen dem Helden auf die Schulter. Siggi ging sogar an die Kasse und spendierte Karl-Heinz eine Packung Waffeln. Eis am Stiel war schon ausverkauft.

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