Meine ersten Sommerferien führen uns in das Jahr 1966. Für mich sollte es drei Wochen in ein Ferienlager auf die Insel Rügen gehen.
Es begann eine schier unendliche Bahnfahrt, die ganze Nacht hindurch, weit weg von zuhause, und dann für so lange—nein, ich wollte das nicht. Übermüdet hieß es dann in Putbus, in den „Rasenden Roland“ umsteigen. Da fühlte ich mich schon etwas wohler, denn der sah genauso aus wie unsere Zittauer Schmalspurbahn. Während der Fahrt schloss ich ab und zu meine Augen, nicht nur vor Müdigkeit, sondern in der Hoffnung, wenn ich sie wieder öffnete, steht an der nächsten Haltestelle Bertsdorf Bahnhof oder Jonsdorf Haltestelle auf dem Schild und ich wäre bald wieder zuhause. Nein, der Zug hielt in Binz und an der nächsten Haltestelle mussten wir aussteigen. Es folgte ein ewig langer Fußmarsch, um endlich in Lancken-Granitz anzukommen.
Erschöpft lag ich nach der Ankunft hinter dem Haupthaus des Ferienlagers auf einer Wiese, schaute in die Wolken und fühlte mich elend. Auch der gerufene Lagerleiter, der mich zu Trösten versuchte und zum Essen animieren wollte, musste mich erst einmal im Gras liegen lassen. Ich hatte zwar Hunger, doch mir war schlecht—ich hatte Heimweh, zumal ich mitbekommen hatte, dass ich, mit gerade mal sieben Jahren, der Jüngste von allen war.
Am nächsten Morgen sah die Welt schon besser aus. Werner, einer von den Großen, hatte mir Mut zugesprochen und meinte: „Das wird schon werden, wenn Du am Ostseestrand liegst und das Meer rauschen hörst.“ Endlich am Strand angekommen, begrüßte mich strahlend blauer Himmel, so viel Wasser und der Horizont so unendlich weit. Ich schmeckte die salzige Meeresluft der Ostsee, herrlich.
Aufregung bei den Jungs am Nachmittag. Zu uns ins Ferienlager kam einer von der Betriebsleitung mit einem funkelnagelneuen „Wartburg 353W“. Dieser „Luxusschlitten“ aus Eisenach wurde erst im Frühjahr auf der Leipziger Messe vorgestellt und jetzt durfte ich ihn ganz aus der Nähe betrachten. So schön kantig, hochmodern mit eckigen Scheinwerfern, wir waren begeistert. Wilfried wusste, dass dieser neue „Wartburg“ über 180km/h schafft und somit schneller als ein Opel Rekord oder ein VW-Käfer fährt. Nur so könne man den Westen überholen, meinte Achim. Ich nickte eifrig, obwohl ich nicht verstanden hatte, worum es genau ging.
Die meisten Tage verbrachten wir mit Baden in Binz, Baabe oder Sellin. Ich schaute den riesigen Schiffen auf dem Meer nach, wusste in welcher Richtung Schweden liegt und überlegte, wie lange man wohl bis zur Schatzinsel unterwegs sein müsste.
Manchmal sangen die Mädchen abends ein Lied… „Sonnenuntergang an der schönen blauen Ostsee…“ Den weiteren Text habe ich vergessen aber die Melodie ist mir bis heute im Kopf geblieben.
An einem Nachmittag hatte der Heimleiter ein schlangenartiges Tier in der Hand. Das wand sich um seinen Arm, öffnete dabei sei Maul und sah furchterregend aus. Es musste eine gefährliche Schlange sein. Obwohl mir bis dahin noch keine begegnet war, erinnerte ich mich an gruselige Geschichten über Schlangen, die mir mein Vater erzählt hatte. Dieses seltsame Tier, dessen Rumpf dicker als mein Arm war, hielt mir der Lagerleiter direkt vor die Nase. Der dachte wohl, weil ich der kleinste war, würde ich schreien oder weglaufen. Obwohl ich in diesem Moment schon etwas schiss hatte, blieb ich tapfer stehen, aber mein Herz pochte laut. Dann wurde auch ich aufgeklärt, dass es ein Aal sei, also ein Fisch, und er frisch geräuchert am besten schmeckt. Später zeigte er uns den Räucherofen, in dem die vielen Aale hingen. Es roch nach Rauch ähnlich wie bei uns zuhause, wenn der Küchenofen angeheizt wurde—mir taten die Tiere leid.
Wenige Tage später stand eine Neptuntaufe auf dem Ferienplan. Alle hatten sich am Bodden versammelt. Kleinere Schiffe blubberten vorbei, es roch nach Teer und ich sah einen dicken Neptun mit einer roten Perücke auf dem Kopf und einem Dreizack in der Hand, auf uns zukommen. Ihn begleiteten zwei Helfer, die sich als Piraten verkleidet hatten. Jeder der Täuflinge sollte rasiert werden. Das Gesicht wurde von einem der Piraten mit irgendeinem Seifengemisch eingeschäumt, dann vom anderen Piraten mit einem schmalen Holzbrettchen wieder vom Gesicht geschabt. Der Neptun verabreichte irgendein essighaltiges Gesöff, die meisten verzogen ihr Gesicht dabei und wurden anschließend kurzerhand von den zwei Helfern ins Wasser geworfen. Wieder an Land sprach der Neptun ein paar Worte zu demjenigen und man war getauft. Kein Problem für alle, die schwimmen konnten, aber für mich schon. Als ich an der Reihe war, bettelte ich, mich nicht ins Wasser zu werfen, da ich noch nicht schwimmen konnte. Der Neptun ließ sich nicht beirren, ich wurde mit Seifenschaum eingeschmiert und mit dem Holzbrettchen bearbeitet. Danach reichte Neptun auch mir dieses Gesöff, das schmeckte ekelhaft nach Essig. Einer der Helfer flüsterte mir zu, dass ich das nicht herunterzuschlucken brauche, sondern ruhig ausspucken dürfe. Ohne lange zu fackeln, flog ich auch schon ins Wasser. Wie können die das nur machen, dachte ich und war mir nicht sicher, ob ich lebend wieder an Land komme. Ich hatte nicht bemerkt, dass Wolfgang, ein dreizehnjähriger, vor mir ins Wasser gesprungen war, um mich Nichtschwimmer in Empfang zu nehmen. Er bugsierte mich unbeschadet an Land und Neptun taufte mich auf den Namen „Sägezahn“, was wohl an meinen vorstehenden Zähnen lag. Am Abend erhielt ich, wie alle anderen, meine Urkunde zur Neptuntaufe.
Schnell vergingen die letzten, erlebnisreichen Tage im Ferienlager. Die Heimfahrt kam mir viel kürzer vor als die Hinfahrt. Es gab so viel zu erzählen und zu lachen.
Meine Mutter holte mich vom Bahnhof ab und fragte, wie es mir gefallen hat und ob ich manchmal Heimweh hatte. Mir hat es super gefallen, brüstete ich mich und Heimweh hatte ich keins, log ich. Stolz zeigte ich ihr meine Urkunde von der Neptuntaufe und fragte sie, ob sie schon einmal geräucherten Aal gegessen habe. Mutter schüttelte lächelnd den Kopf: „Schön, dass Du wieder zuhause bist.“
Fotos: Henry Förster
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