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Das verunglückte Reh

by | 7. November 2024

Dezemberland

In der Tiefe des Zittauer Gebirges, dort, wo es für uns Menschen unmöglich scheint hinzugelangen, gibt es ein kleines Dorf mit etwa vierzig Bewohnern. Hier leben die Querxe. Das sind Zwerge, die sich dank ihrer Tarnkäppchen bei Gefahr unsichtbar machen können. In 24 liebevoll illustrierten Geschichten retten sie unter anderem ein Reh, bitten Fürst Frostbacke um Schnee und feiern am Ende ein fröhliches Weihnachtsfest. Ein wundervolles Buch für eine besondere Zeit.

 

 

 

1.Dezember  Das verunglückte Reh

Das Jahr neigt sich langsam dem Ende zu. Die Herbstwinde haben die meisten Blätter von den Bäumen gefegt. Kahle Äste knarren bei jedem Windstoß, so als ob sie sich Geschichten erzählen.

Jachim, der Älteste im Querxendorf Kaskaria schaut aus dem Fenster und runzelt besorgt seine Stirn. „Heute ist der erste Dezember und noch kein Schnee in Sicht“, spricht er zu seiner Frau Oktavia. „Drüben im Nachbarhaus, der kleine Emmerich ist schon drei Jahre alt und hat noch nie richtigen Schnee erlebt. Die paar Flocken, die in den letzten Jahren in unserem Dorf vom Himmel gefallen sind, haben beim besten Willen nichts mit einem richtigen Winter zu tun.“ „Was willst du denn machen?“, fragt Oktavia. „Wenn ich das wüsste“, antwortet Jachim achselzuckend.

Plötzlich donnert es an der Wohnungstür. Ehe Jachim herein sagen kann, stürmt Dorisch, ein Querx mit blonden Locken und einer grünen Zipfelmütze in die Stube. „Hilfe! Hilfe! Ihr müsst sofort alle nach draußen kommen! Ein junges Reh ist am Steinbruch verunglückt. Es hängt festgeklemmt zwischen zwei Steinen in einer Felsspalte.

„Rufe sofort die anderen zusammen, bringt Werkzeug mit und lasst uns unverzüglich zum Steinbruch eilen!“, befiehlt Jachim. Er schlüpft in sein warmes Mäntelchen, Oktavia bindet sich einen dicken Schal um den Hals und beide eilen los. Es dauert gar nicht lange, da stehen alle Querxmänner aus Kaskaria am Steinbruch. Killie rückt seine blaue Bommelmütze gerade und ruft dem Reh zu: „Mach dir keine Sorgen, wir helfen dir. Wie ist denn das passiert?“ Das Reh dreht den Kopf zur Seite und antwortet: „Ich war unten im Menschendorf. Da gibt es in einem Garten noch herrliche Rosen. Wer weiß, wie lange es dauert und der erste Frost macht sie alle kaputt. Ich liebe besonders die rosaroten, die schmecken mir am besten. Da habe ich mir eben den Bauch so richtig vollgeschlagen. Plötzlich kam ein riesiger Hund auf mich zu und hat laut gebellt. Da habe ich Angst bekommen und bin weggelaufen, der Hund hinter mir her.“

Das Reh hustet und atmet schwer. Erschöpft spricht es weiter: „Den Hund konnte ich abhängen, weil ich so schnell gelaufen bin, wie ich konnte. Als ich hier oben bei euch angekommen war, hatte ich einen Moment nicht aufgepasst und stecke nun hier fest. Jachim tritt näher, betrachtet sich das Bein des Rehes und stellt fest: „Gebrochen ist es nicht, wir müssen nur den großen Stein irgendwie zur Seite rollen, dann kannst du dein Bein herausziehen und bist frei.“

Ein paar Querxe versuchen mit ihren Spitzhacken den Stein zu bewegen. Gleichzeitig ziehen die anderen am Bein des Rehs. Nichts rührt sich. Immer wieder und wieder versuchen sie es. „Das Reh steckt zu tief in der Felsspalte. So schaffen wir das nie!“, ruft Dorisch den anderen zu. „Wir können es doch hier nicht feststecken lassen. Bald kommt der Frost und vielleicht auch Schnee. Das wird das Reh nicht überleben!“, erklärt Jachim besorgt.

Unterdessen ist es Mittag geworden. Mathilde, die Mutter vom kleinen Emmerich, und die anderen Querxfrauen haben einen großen Topf Steinpilzgulasch gekocht. Nach der Strapaze vom Vormittag ein willkommener Schmaus. Querxfrau Henriette bietet auch dem Reh eine Schüssel Steinpilzgulasch an. Das Reh schüttelt den Kopf: „Zum Essen ist mir gerade nicht zumute und ich hatte heute schon genug Rosen. Vielen Dank.“ Während die Querxe es sich schmecken lassen, ergreift Professor Schlaumeier das Wort: „Passt mal auf Leute! Wie ihr wisst, bin ich Lehrer in Kaskaria. Ich habe sogar schon Bücher gelesen. In einem war zu sehen, wie Menschen mit einem langen dicken Balken ein Auto angehoben haben. So konnte ein kaputtes Rad gewechselt werden. Wir sollten einen passenden Stamm finden, mit dem wir den Stein anheben und so das Bein des Rehes aus der Felsspalte ziehen können. Das leuchtet den Querxen ein und alle essen schnell auf. Widuwild, der Querx mit der längsten Nase ruft in die Menge: „Ich weiß sogar, wo wir so einen Stamm finden können!“ Alle Querxmänner folgen Widuwild. Mathilde stellt dem verletzten Reh ein Eimerchen mit Wasser hin: „Trink ruhig, du bist bestimmt durstig.“ Das verletzte Reh trinkt hastig den Eimer leer.

Unterdessen wird es Abend und die Sonne verschwindet langsam hinter den Fichten.

Endlich tauchen die Querxe mit einem Stamm auf. Mit Äxten spitzen sie das dünnere Ende des Stammes an, legen einen Stock quer vor den zu bewegenden Stein und hängen sich alle an das dicke Ende des Stammes. Der Fels bewegt sich ein kleines Stück, doch es reicht nicht, um das Bein des Rehes aus der Felsspalte zu ziehen. Immer wieder probieren es die hilfsbereiten Querxe. Professor Schlaumeier kratzt sich am Kopf und stellt fest: „Leute, wir sind zu leicht, um diesen Felsen zu bewegen. Wir brauchen mehr Gewicht.“ Alle schauen auf den dicken Grummelich. Der entschuldigt sich: „Ich weiß ja, dass ich dick bin, doch scheinbar nicht dick genug.“ Da müssen, trotz der großen Anstrengung, alle lachen. „Wir brauchen eben ein paar dicke Grummeliche mehr“, scherzt Jachim. „Augenblick mal Leute. Ich habe eine Idee!“, ruft Professor Schlaumeier in die Menge und läuft davon.

Unterdessen ist es dunkel geworden. Einige Querxe haben ihre Laternen angezündet. Da ist ein lautes Schnaufen zu hören. Professor Schlaumeier kommt mit Detlef dem Dachs um die Ecke. Der erkennt schnell die Lage und läuft zum Reh.

Erneut hängen sich alle Querxe an dem Stamm. Als der Stein sich bewegt, greift der Dachs mit seinen kräftigen Krallen zu und rollt ihn zur Seite. Das Reh zieht sein Bein aus der Felsspalte und ist befreit. Die Querxe jubeln und freuen sich, dass sie mit vereinten Kräften und Detlef dem Dachs das Reh retten konnten. Abschließend wirft noch Doktor Pillrich, der Arzt von Kaskaria, einen fachmännischen Blick auf die Verletzung und befindet: „Halb so schlimm. Der Kratzer heilt in den nächsten Tagen!“ „Vielen Dank liebe Freunde, dass ihr mir geholfen habt. Das werde ich euch nicht vergessen!“, bedankt sich das Reh, dreht sich um und läuft langsam in den Wald.

„Vielen Dank lieber Detlef.“ Jachim klopft dem Dachs auf die Schulter. „Jetzt sollten wir aber alle nach Hause gehen, das war ein anstrengender Tag“, ruft er Killie, Dorisch und allen anderen zu.

Am Abend sitzen alle Querxe am wärmenden Lagerfeuer und haben sich noch eine Menge zu erzählen, bevor sie später in ihre Holzhütten gehen und zufrieden einschlafen.

 

 

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