Zweiter Teil
Aus dem Erzählband „Kraniche im Ruderflug“
Heute hier mein 2. Teil zur Geschichte vorab mit einem Zitat, das nachdenklich macht.
Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. (Richard von Weizsäcker)
„Die Kinderschuhe“
Es gab Momente, da spürte sie, dass der nächste das Leben auf immer verändern wird.
Das rote Ziegelhaus. Die dichte Metalltür, die sich am Morgen mit lautem Knallen hinter ihr schließt, das ist so ein Moment.
In aller Frühe bringt der Bus sie nach Oswiecim.
Es hatte die ganze Nacht geregnet. Auf den Lichtleitungen sitzen Schwalben wie schwarze Noten in einer Partitur.
Von der Bushaltestelle führt der Weg vorbei an zubetonierten Gleisen und verwilderten Schrebergärten, einem Zwinger in dem ein Schäferhund bellt …
»Du musst den Wattetupfer anfeuchten. Das Leder absorbiert Fett besser, wenn es feucht ist«, erklärt ihr der Restaurator.
Ein Raum, steril und kalt, wie in einem Krankenhaus.
Halogenlampen,weiße Keramikfliesen an der Wand. Mikroskope. Geruch von Chemikalien in der Luft.
Ein riesiger Tisch, bedeckt mit einem Vlies.
Ein weißer Kittel, Gummihandschuhe, ein kleiner Pinsel.
Ein Kinderschuh in ihrer Hand, von dem sie vorsichtig mit einem Wattetupfer den Staub der Jahre entfernen muss.
Sie hätte in Kraków eine Stelle finden können: Polnischer Denkmalschutz, Kloster Mogila zum Beispiel.
Sie hätte wissen müssen, was sie erwartet. … sie hat es gewusst.
Sie sitzt in Fensternähe, mit dem Wattetupfer in der Hand, schaut auf einen rostigen Stacheldrahtzaun, ein verwittertes Warnschild: Vorsicht! Elektrozaun!
Hinter blühenden Holunderbüschen ist vage das Tor zu erkennen, das berüchtigte Tor, das Freiheit versprach. Deutsche Worte. Wenige nur noch und doch zu viele.
Ihr frisch präparierter Schuh liegt auf dem Tisch und sie sucht in der Holzkiste nach dem zweiten – hellblau, Größe achtundzwanzig.
Sie sieht Angstaugen zwischen dem Leder. Sie gleitet behutsam über die Schuhe, als könne sie so all die Kindertränen trocknen.
Zirka 8 000 Kinderschuhe … Sie hat im Internet recherchiert.
Neben ihr sitzt die polnische Kollegin Sylwa, die an einem Lederkoffer arbeitet.
Luise Neumann, weiße Schriftzeichen auf braunem Grund. Wenigstens hat Sylwa einen Namen, an dem sie sich festhalten kann, denkt sie und sieht die kleine Luise, wie sie den Koffer packt …
Was wird sie damals mitgenommen haben?
Klick … klack, das klickende Geräusch der kurzen eiligen Schritte, die durch den Raum hallen, Sylwas Absätze.
Kaffeepause, schnappende Geräusche von Latexhandschuhen, die sich die Restauratoren von den Händen ziehen. Polnische Laute. Lachen, schwatzen, essen.
Sie sitzt stumm und fremd dabei. Ihr Frühstücksbrot klemmt irgendwo zwischen Speiseröhre und Magen.
Auf dem Heimweg hämmert ihr Herz, je näher sie ihrer Wohnung kommt.
Krzysztof …, sie kann ihn nicht in die Arme nehmen, ohne an die Kinderschuhe zu denken.
Nachts hält sie die Augen starr geöffnet, ins Dunkel schauend, als könne sie so die Gedanken wegwischen und die Zeit anhalten, die sie durch ihr Schweigen immer weiter von Krzysztof entfernt.
Als die Müdigkeit sie übermannt, schwebt über ihr eine dunkle Wolke.
Schreie bevölkern ihren Kopf, Bilder, menschliche Gestalten. Wenn die Bilder in Zeitlupe zurückrollen, zurückgespult wie ein Videofilm, wenn im Zeitraffer die Menschen rückwärts aus den Kammern kommen, ihre faltigen Körper aufrichten, sich straffen, sich ankleiden, die Schuhe zuschnüren, ihre Koffer nehmen, sich an den Händen halten … , kann sie einschlafen.
Oft ist Krzysztof dicht neben ihr und hält ihren zitternden Körper im Arm: »Hast du schlecht geträumt?«
»Ich kann hier nicht bleiben …«
Krzysztofs Hände liegen auf ihren Schultern: »Geh nicht weg«, flüstert er.
»Versprich mir, dass du nicht weggehst.«
Nach einigen Minuten, die sie damit beschäftigt ist, die Enge im Brustkorb und Hals zu lösen und die Nässe in den Augen herunterzuschlucken, bricht sie das Schweigen: »Ich gehe nach Berlin zurück …«
Da lässt er seine Arme sinken, als hätte die Schwerkraft ihn besiegt. Tränen steigen ihr nun doch in die Augen, laufen über das Gesicht und sie ist dankbar für die Dunkelheit im Raum.
„Die Kinderschuhe“, aus dem Erzählband Kraniche im Ruderflug, ISBN 9783741272844
www.christiane-schlenzig.de
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