aus „Flügel zitternd im Wind“ – ein Roman mit zehn Geschichten, jede eine Erzählung für sich und doch romanartig miteinander verbunden.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft treffen aufeinander.
Geschichten aus den schützenden Nischen einer Diktatur.
Drei Protagonisten, drei Leben im geteilten und dann wiedervereinten Deutschland bis hin in unser 21. Jahrhundert.
Ein kleiner Auszug: Der Weg der Erinnerungen
Ein Besuch im Elternhaus. Sie steigt an der Bushaltestelle im Oberdorf aus, um noch einmal auf dem Waldweg ihrer Kindheit zu wandeln.
Sie richtet sich auf, streckt sich. Atmet tief, lehnt sich an den Stamm einer Kiefer und fühlt das Holz unter ihren Händen. Wenn doch die Bäume erzählen könnten, denkt sie.
Zwischen den Jahresringen tropft Harz. »Sie bluten«, hatte der Vater gesagt. Und sie hatte gefragt: »Haben sie ein Herz?«
Am Wegesrand, dort wo der Forstweg beginnt, liegen Baumstämme, akkurat aufgeschichtet.
Es duftet nach frischem Kiefernholz. Früher war inmitten der jungen Bäume eine Sandgrube. Ein idyllischer Spielplatz für uns Kinder. Wenn man tief drinnen auf dem kühlen Sand lag, hatte man nur den Himmel über sich. Die Wolken, die Vögel, die Kiefernzweige.
Hier konnte sie oft, stundenlang im Sand liegend, die Wolkenbilder beobachten. Sie wählte sich eines aus und schaute so lange, bis sie darin eine Form erkannte. Wolkengesichter. Wolken als Verwandlungskünstler.
Einmal – sie erinnert sich noch genau –, waren dort, wo eine neue Wolke über den Grubenrand herankam, dort wo das Wurzelwerk der Kiefern über den Sand hinausragte, plötzlich zwei Lederstiefel, derb und schwarz, mit tiefen Einkerbungen in den Sohlen.
Ein Gesicht starrte herunter. Große dunkle Augen. »Ein Russe«, flüsterte eines der Kinder. Sand rieselte herab. Die Kinder schauten nach oben und wurden stumm. Ein Russe im Wald bedeutete Gefahr, so hatte es die Mutter übermittelt. Sie sieht heute noch Mutters Angstaugen, wenn sie im Wald einen russischen Soldaten sah.
Als die Kinder damals am Abend dem Vater davon erzählten, schaute er ernst und traurig:
»Das sind russische Soldaten. Sie leben eingesperrt in Kasernen. Sie sollen uns und unser Land bewachen. Sie sehnen sich nach ihrem Zuhause. Und manches Mal versuchen sie zu fliehen.«
Der Pfad ist glitschig. Die Wurzeln sind mit Kiefernnadeln und Buchenblättern zugedeckt. Vereinzelt wird das Laub vom Windstoß in die Lüfte gewirbelt, zerblasen, und dann taumeln die Blätter zu Boden. Vorsichtig balanciert sie über den Waldweg. Der kleine Weg führt hinunter an den Bach und über eine Brücke zum Elternhaus.
Ein Pfarrhaus, eine Haustür die nur nachts verschlossen war.
Am Tag stand die Tür für jedermann offen. Leute konnten kommen und gehen, wann immer sie wollten. Der Vater, den die Leute sprechen wollten, war meist im Hof oder Garten zu finden. Er mistete den Hühnerstall aus oder grub in der Erde. Das liebten die Dorfbewohner. Er war einer von ihnen und doch einer von da ganz oben.
Sie freut sich auf das freie Wochenende. Sie schlägt die Richtung zur Holzbrücke ein, erreicht den sprudelnden Bach.
Manchmal war es dort laut: Schüsse, von denen die Dörfler sprachen. »Sollten sie doch erzählen, die Leute. Manchmal erzählen sie Schauermärchen, um sich wichtig zu machen«, meinte die Mutter.
Das vertraute Plätschern, ein Stück Erinnerung.
Die Spiele der Kindheit, frei und unbeschwert. Vergangenheit war noch ein fremdes Wort, damals. Am Bach hatten sie gespielt. Steine werfen, Wassertreten, Angeln.
Sie hatten sich Dämme gebaut, aus Baumrinde und Borke Schiffchen.
Einmal, es hatte am Tag zuvor geregnet und der Bach war zu einem reißenden Strom geworden, da gerieten die Boote beim Aufsetzen auf die Wasseroberfläche in Not, sie tanzten über die Strömung, über die Wirbel. Sie kämpften mit dem launischen Wasser, kenterten schließlich und blieben im Gesträuch hängen. Nur das Boot von Tobias hielt der Strömung stand. Er hatte lange daran geschnitzt und kunstvoll mit Stöckchen und Blättern ein kleines Segel gebastelt. Kaum hatte er die Segel gehisst, glitt es auch schon davon.
Auf und ab, und unbeirrt, es blieb nirgendwo hängen. Offenbar hatte es ein Ziel.
Tobias rannte am Bach entlang, seinem Kunstwerk hinterher. Zwischen kleinen Birken und Sträuchern schlängelte sich das Wasser, am Forsthaus vorbei, an der Baumschule – die schon damals nur noch dem Namen nach existierte. Nadeln und Laub stachen ineinander, eine Wildnis, die kein Gesicht trug – durch saftig grüne Wiesen ins Unendliche.
Dann war Tobias lange Zeit verschwunden. Als er langsam mit hängenden Schultern, zerrissener Jacke und zerzausten Haaren am Spielplatz wieder auftauchte, jammerte er:
»Mein Boot ist weg. Die haben es mir geklaut.«
»Wer ist d i e?« Tobias war verstört und stotterte: »Das Boot ist in einem Stacheldraht hängen geblieben und als ich es befreien wollte, standen da zwei Männer mit einem Gewehr.«
Abends, als sie zu Hause von Tobias und seinem Kummer erzählten, hatte sich Mutters Blick umwölkt und in Vaters Blick spiegelte sich Mutters Sorge, als er sagte: »Ihr dürft nie weiter gehen als bis zur Baumschule«, und er sagte etwas von … Gefahr und Bewachung.
Damals gab es dort einen Drahtzaun, der das Gebiet zum Westen hin abgrenzte. Später begann unweit des Dorfes die sogenannte Sperrzone zum Westen, eine Bewachung vor dem Eindringen des Feindes – ein antifaschistischer Schutzwall. Einige sprachen vom Todesstreifen.
Das war damals … Jetzt, denkt sie und atmet die Waldluft noch einmal tief ein und aus,- jetzt sind Bäume, Bäche, Waldwiesen, Menschen, vom „Schutzwall“ befreit.
… der Roman „Flügel zitternd im Wind“ – ISBN 9783750428904
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