Wie gut und richtig es ist, wenn das Jahreszeitenrad sich beständig weiterdreht – das lernt ein junger Ahorn in der Geschichte, die ich Ihnen heute vorstellen möchte.
Und geht es uns nicht ähnlich? Wer möchte nicht manchmal die Zeit anhalten?
Jetzt aber dürfen wir uns freuen, auf die lang ersehnte und wohl zauberhafteste Zeit des Jahres: den Frühling.
Als die Sonne den Ahorn besuchte
Die Frühlingssonne machte sich gleich nach dem Morgengrauen auf den Weg. Heute gab es mehr zu tun als in den letzten Wochen. Sie wollte der Erde nicht nur Licht schenken, sondern jedes Fleckchen mit wärmenden Strahlen besuchen, um die Natur aus dem Winterschlaf zu holen.
Die Bäume des Laubwaldes streckten ihr nackte Äste entgegen. Es war höchste Zeit, das Jahreszeitenrad weiter zu drehen. Würde es ihr wieder gelingen, aus den kahlen Zweigen grüne Spitzen hervorzulocken? Es war jedes Jahr ein neues Wunder. Voller Begeisterung machte sie sich an die Arbeit. Dabei fiel ihr ein junger Ahorn auf. Er war so klein und schmächtig, dass sie beschloss, sich um ihn besonders zu kümmern. Liebevoll wärmte sie jedes Zweiglein und beobachtete, wie sich winzige Blattspitzen ans Licht kämpften. Doch dem Ahorn, der die Winterstarre abschüttelte und sich gähnend reckte, schien das gar nicht recht zu sein.
„Was soll das?“, rief er und versuchte, sich im Schatten seiner Nachbarn zu verstecken. „Was tust du mit mir?“
Die Sonne war es gewohnt, dass Menschen, Tiere und Pflanzen sich nach ihrer Wärme sehnten, und sie wunderte sich. „Weißt du nicht, dass du mich brauchst, damit dir Blätter wachsen? Du willst doch nicht als Einziger kahl bleiben.“ Sie kicherte.
Der junge Ahorn wackelte entrüstet mit seinen Zweigen. „Natürlich will ich das! Ich finde meine Zweige schön. Sie sind leicht, meine Krone ist luftig und ich will nicht, dass sich daran etwas ändert.“
Die Sonne schüttelte den Kopf, ließ sich aber nicht beirren. So sehr sich der junge Ahorn auch sträubte, die Natur nahm ihren Lauf und bald wuchsen ihm, wie allen umstehenden Bäumen, frische grüne Blätter. Und da keiner der anderen Bäume daran etwas auszusetzen hatte, gab er sich endlich damit zufrieden. Wenig später, als sich Vögel auf ihm niederließen und vergnügt auf den belaubten Zweigen wippten, erfüllte ihn sogar Freude über das prächtige Blätterwerk. Den ganzen Sommer über präsentierte er stolz und aufrecht seine wachsende grüne Krone und war sicher, dass nun alles so bleiben würde.
Aber der Herbst zog ins Land, schob die Sonne hinter eine Wolkenwand und holte Stürme und Nebel aus seinen Taschen. Ein Teil der Vögel machte sich reisefertig.
„Ich hoffe, deine Blätter färben sich, bevor wir starten“, sagte eines Tages der Buchfink, der sich für einen kleinen Abendgesang auf dem Ahorn niedergelassen hatte.
„Wieso färben?“, entgegnete der Ahorn. „Meine Blätter sind wunderbar grün, und ich will nicht, dass sich daran etwas ändert.“
Der Buchfink schüttelte den Kopf und setzte zu einer Entgegnung an: „Willst du kein Herbstlaub? Warte ab, wie wunderschön bunt alles bald aussieht.“
Der Ahorn befühlte wehleidig sein Blätterdach und schielte zu anderen Bäumen. Tatsächlich! Hier und da zog sich das Grün zurück und machte gelblich-braunen Flecken Platz.
„Ich will das nicht!“, flehte er, aber der Herbst war unerbittlich. Als der Ahorn nach einer besonders kalten Nacht erwachte, trug er ein fremdes Blätterkleid.
„Das bin nicht ich!“, rief er entsetzt und schaute verzweifelt um sich. Da bemerkte er die bewundernden Blicke der älteren Bäume ringsum. Sie alle hatten sich farbenfroh geschmückt, doch keiner leuchtete so wie er. Allmählich begann der Ahorn selbst über die bunte Pracht, die ihn bekleidete, zu staunen. Von strahlendem Gelb, über warmes Oranges bis zu tiefdunklem Rot hatten sich so viele Farben über ihn ergossen, dass er es langsam genoss, im Mittelpunkt aller Bewunderung zu stehen. Nun wusste er endlich, wie ein fertiger junger Ahorn aussah und er brüstete sich und winkte mit seinen flammenden Zweigen nach allen Seiten.
„Werde nur nicht hochmütig“, säuselte ihm da der erste Nachtfrost ins Geäst. „Noch habe ich am Boden zu tun, aber wenn ich erst über deiner Krone schwebe, werden sie fallen, deine bunten Blätter.“
„Verschone mich!“, rief der Ahorn. „Kümmere dich um die anderen, aber meine Blätter sind einzigartig in ihrer Farbenpracht und ich will nicht, dass sich daran etwas ändert.“
Der Frost schüttelte den Kopf und lachte klirrend: „Glaubst du etwa, du würdest so den Winter überstehen? Zierlich wie du bist, und mit der Schneelast auf allen Blättern?“
„Ich will sie nicht loslassen“, jammerte der Ahorn.
„Dann halte sie fest, wenn du kannst“, entgegnete der Frost, in der stillen Gewissheit, dass er seine Aufgabe genau wie jedes Jahr erfüllen würde.
„Wer kann mir helfen?“, rief der Ahorn unglücklich und seufzte, weil er sich so verlassen fühlte.
Was war das für ein Getümmel unter den anderen Bäumen? Der Ahorn schielte ein wenig neidisch auf seine Nachbarn. Deren Kronen hatten sich zwar gelichtet, aber unter ihnen stampften fröhliche Kinder im Blättermeer. Sie warfen Hände voll mit raschelndem Laub in die Höhe, sie bauten sich kuschelige Nester in Laubhaufen und sammelten die schönsten Blätter, um sie zwischen Buchseiten zu pressen. Als sie sehnsüchtig nach seinen eigenen Blättern sahen, wusste er, dass es Zeit war. Schwermütig ließ er eins nach dem anderen fallen. Der Herbstwind hatte Mitleid mit ihm und wollte ihn aufheitern. Er huschte zwischen die Zweige und lud die Blätter zu einem Tanz ein. Sie schwebten und wirbelten so fröhlich zur Erde, dass der Ahorn nicht anders konnte, als zu glauben, dass nun alles seine Richtigkeit hatte. Die Sonne zwängte sich durch einen Ritz in der Wolkendecke und schickte ein paar Strahlen nach unten.
„Siehst Du nun, wieviel Schönes geschehen kann, wenn du es zulässt?“
Der Ahorn, der inzwischen ein beträchtliches Stück gewachsen war, reckte sich und streckte der Sonne seine Zweige entgegen.
„Wenn ich es nur früher gewusst hätte …“, sagte er und lächelte, „Aber es ist gerade so schön, und ich will eigentlich nicht, dass sich daran etwas …“
„Ohne Winter, kein Frühling“, unterbrach ihn die Sonne. „Du wirst dich nun ausruhen und Kräfte sammeln, und ich verspreche dir, ich komme wieder, um dich zu wecken. Glaub mir, dann beginnt alles neu.“
Eva Mutscher
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