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Das Märchen vom kleinen Jetzt

von | 16. Juni 2023

Mit dem nachfolgenden Textauszug möchte ich Sie neugierig auf „Das Märchen vom kleinen Jetzt“ machen.

Egal, wie die Zeit rennt, wir können sie nicht anhalten, verlangsamen oder beschleunigen.

Was wir können ist, manchmal ein bisschen genauer hinhören, wenn jemand leise an unserem Ohr „Jetzt!“ wispert.

 

 

 

Das Märchen vom kleinen Jetzt

 

Das kleine Jetzt hatte viel zu tun. Unermüdlich erinnerte es die Menschen daran, sich auf das zu besinnen, was gerade geschah – um sie herum und in ihnen drin, nicht gestern oder morgen, nicht vorhin oder bald, sondern genau jetzt.

Gerade weil es den Menschen so schwer fiel, das kleine Jetzt zu bemerken, nahm es seine Aufgabe ernst. Es stupste den einen an, rüttelte am anderen und versuchte, aufmerksam zu machen: auf die schönen Augenblicke, auf die großen Momente, genauso auf das Alltägliche und auch auf das Schwere. All das gehörte hinein in ein Menschenleben. So jedenfalls wurde es gelehrt, hoch oben im Palast der Ewigkeit. Von dort sauste das kleine Jetzt hinab, um die Menschen zu besuchen und dahin kehrte es zurück, wenn sie sich zur Ruhe legten. Dann wandelte es durch den Palast, der mit großen und kleinen Zeiträumen gefüllt war.

Am liebsten beobachtete das kleine Jetzt die Zeitgeister bei ihrer Arbeit. Pausenlos reihten sie Sekunden aneinander und fädelten sie auf eine Lebensschnur, genau wie Perlen auf eine Kette. Jeder Mensch bekam eine davon.

 

Eines Abends kehrte das kleine Jetzt von der Erde zurück in den Palast der Ewigkeit und konnte seinen Unmut nicht verbergen.

„Von früh bis spät habe ich versucht, die Menschen aufmerksam zu machen. Aufmerksam auf das, was gerade geschieht. Ich habe mich auf ihre Schultern gesetzt und ihnen ins Ohr geflüstert: ‚Jetzt-jetzt-jetzt!‘ Aber sie wollten mich nicht hören. Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll. Sie verpassen einen Teil ihres Lebens und merken es nicht einmal.“

Das kleine Jetzt seufzte und verkündete: „Ich habe keine Lust mehr, mich darum zu kümmern. Sollen sie sich doch verlieren in dem, was war oder in dem, was kommt. Wenn sie mich nicht beachten, gehe ich einfach nicht mehr hinunter auf die Erde.“

Die Zeitgeister waren entsetzt. „Was soll dann aus unserer Arbeit werden? Jede Sekunde ist eine kostbare Perle auf der Lebensschnur eines Menschen. Niemand kennt ihren Wert so gut wie du und keiner außer dir kann das den Menschen zeigen.“

Das kleine Jetzt hob resigniert die Schultern.

„Ich wollte es ja zeigen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was ich alles probiert habe. Aber nichts funktioniert mehr. Die meisten haben mich überhaupt nicht wahrgenommen.“

Die Zeitgeister hörten zu und machten betroffene Gesichter.

„Dann können wir ja statt der bunt schillernden Sekundenperlen auch farblose Murmeln auffädeln oder auf der Schnur große Lücken lassen“, brummte ein Zeitgeist.

„Oder einen Knoten nach dem anderen machen“, schlug der zweite verärgert vor.

„Wofür tun wir das hier eigentlich?“, beschwerte sich ein nächster.

Andere jedoch forderten: „Das kleine Jetzt ist wichtig. Es darf nicht aufgeben, sich bemerkbar zu machen! Dann hat unsere Arbeit wieder einen Sinn.“

 

Tagelang überlegte das kleine Jetzt, an wen es sich mit seinem Kummer wenden und wo es Hilfe finden könne. Die Zeitgeister hatten zwar verständnisvoll zugehört, doch sie waren zu beschäftigt, um sich mit diesen Sorgen zu befassen. Schließlich waren unzählige Sekunden zu hüten, zu sortieren und in der richtige Folge aufzureihen. Das kleine Jetzt wusste, dass jede Ablenkung Fehler nach sich ziehen konnte und das würde fatale Folgen für ein Menschenleben haben. Es grübelte weiter und kam sich schließlich ganz verlassen vor. Keine Idee, kein guter Rat war in Sicht. Niedergeschlagen schaute das kleine Jetzt zur Erde hinab. Die Menschen kamen scheinbar alleine zurecht.

Doch was war das? Ein dunkler Schleier zog über die Erde. Nur vereinzelt drangen helle Punkte durch das traurige Grau. Das kleine Jetzt wunderte sich und hielt einen Zeitgeist auf, der gerade mit einem Arm voll neuer Sekunden vorbeieilte.

„Warte!“, rief es. „Weißt du, was da unten los ist?“

Der Zeitgeist warf einen kurzen Blick hinunter und zuckte mit den Schultern.

„Scheinbar ist die graue Unzufriedenheit auf dem Vormarsch. Neulich waren nur ein paar Flecken zu sehen. Es ist unglaublich, wie schnell sie sich ausbreitet.“ Der Zeitgeist raffte die Sekunden zusammen, die ihm aus den Armen rutschten und rief im Weiterlaufen: „Dir wird nichts anderes übrig bleiben. Du musst wieder hinunter. Sonst nimmt es ein schlimmes Ende.“ Schon war er im nächsten Zeitraum verschwunden.

Das kleine Jetzt stöhnte. „Wenn sie einfach nicht auf mich hören …“ Es kam sich nutzlos vor, und das geschäftige Treiben ringsum machte es nicht besser.

„Da sind die Zeitgeister pausenlos am Werk und keiner will ihre Arbeit achten. Dabei ist jede Sekundenperle einzigartig. Es nutzt nichts, ich mach mich noch einmal auf den Weg.“

Das kleine Jetzt sammelte seine besten Vorsätze, nahm allen Mut zusammen und besuchte die Menschen erneut. Bald landete es an einer Stelle, an der besonders viele und große Häuser beieinander standen. Hier lebten unzählige Menschen auf engem Raum. Es musste doch gelingen, zu einigen durchzudringen. Wäre da nicht dieser Lärm gewesen. Das kleine Jetzt setzte sich einem nach dem anderen auf die Schulter und rief in unzählige Ohren: „Jetzt-jetzt-jetzt!“, immer in der Hoffnung, dass jemand aufmerksam werden und sich auf den Moment besinnen würde. Doch das Rufen ging in der Vielzahl der Geräusche unter. Ab und zu schien es, als ob ein Mensch kurz aufhorchen würde. Wenn ihm dann das kleine Jetzt einen Sonnenstrahl vor die Augen zog und den Wert eines Augenblicks zeigen wollte, hörte es nur: „Weißt du, was letzte Woche wieder los war?“ oder „Früher … ich kann das einfach nicht vergessen.“ oder „Warum musste mir das damals passieren?“

„Sind die alle von gestern?“, stöhnte es und spornte sich im Weiterlaufen an. „Ich lasse mich nicht abwimmeln.“ Aber die nächsten, die es traf, schienen auf etwas zu warten und sich nur mit künftigen Dingen zu beschäftigen. Sie trugen Kalender mit sich herum und das kleine Jetzt hörte schnell ihre Lieblingsworte heraus: „Wenn …“ und „,dann …“.

„Hallo!“, rief es einem zu, der ungeduldig auf die Uhr schaute. „Du verpasst gerade dein Leben!“ Doch außer einem verständnislosen Blick kam keine Reaktion. „Wann wird der Zeitpunkt da sein, den du herbeisehnst? Morgen, nächstes Jahr oder irgendwann?“

 

Aus: Eva Mutscher, Das Märchen vom kleinen Jetzt

© 2023 Verlag am Eschbach, Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern

ISBN-10 ‏ : ‎ 3869179112   ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3869179117

 

 

 

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