Für uns Soldaten, Gefreite und Unteroffiziere die Ihren Wehrdienst bei der NVA oder bei den Grenztruppen der DDR absolvierten, war der Tag an dem ein Diensthalbjahr zu Ende ging, ein ganz besonderer Tag. Unbeschreiblich schön war es auch für mich, da ich nun endlich nach Hause entlassen wurde. Entlassen, klingt etwas wie befreien und das war es auch. Eine Befreiung von irrsinnig erscheinenden Befehlen, von chaotischen Tagesabläufen und eine Erlösung von Dingen, die ich ganz sicher nicht gern getan habe. Die Jungs die noch ein halbes Jahr „dienen durften“, freuten sich natürlich auch, denn die nächste Entlassung war dann endlich auch Ihre und ab jetzt waren Sie die „Alten“, also das dritte Diensthalbjahr. Ich war 18 lange Monate bei den Grenztruppen und ich weiß, hier herrschte an jedem einzelnen Tag eine gewisse Unsicherheit. Wobei die sechs Monate Ausbildung, anders einzuordnen sind, als die Tage in denen ich in der Grenzkompanie verbracht hatte. Die Unsicherheit an diesem Tag, war die Frage, was kommen für neue Soldaten in die Kompanie. Die Leute die nach ihrem halben Jahr Ausbildung an die Grenze versetzt werden. Bei den Grenzern war das ein eigenartiges Gefühl über das manchmal auch offen, aber meist nur heimlich gesprochen wurde. Sind das alles „normale“ Soldaten, die nur Ihren Dienst leisten mussten, oder hatte vielleicht jemand eine Dummheit im Sinn? Damit meine ich auch Republikflucht, wie es damals genannt wurde. Und dann waren ja auch Soldaten von der Staatssicherheit dabei. Leute die zum Ausspionieren einfach den Dienst eines Soldaten mitmachten, einen auf dicken Kumpel spielten, nur um andere auszuhorchen und es dann weitermeldeten. Diese Unsicherheit war heute für mich endlich vorbei.
Unsere Kompanie, die 8.Grenzkompanie des Brockenbataillons kam heute früh von der Nachtschicht. Die letzte Schicht für unser Diensthalbjahr. Ich war als UvD (Unteroffizier vom Dienst) im Objekt geblieben. Obwohl ich nur ein Gefreiter war, war ich eben auch ein Gruppenführer. Bei uns hieß das 30 Mark Uffz. Aber darüber berichte ich später noch.
Jetzt wartete ich nur noch ungeduldig auf meine Ablösung, da nun bereits alle Fahrzeuge aus dem Grenzabschnitt angekommen sind. Aber auch jetzt waren die Nerven immer noch angespannt, denn sogar an diesem Tag wurde uns nochmal aufgezeigt, ihr seid noch bis 24 Uhr Angehörige der Grenztruppen der DDR.
Die anderen Jungs meines Diensthalbjahres widmeten sich schon unserer letzten Tradition, sie tranken Kaffee und aßen Torte. Währenddessen ich immer noch Dienst schob. An diesem Tag war man noch etwas kameradschaftlicher zueinander, als an den anderen Tagen. An Schlafen war jetzt jedenfalls noch nicht zu denken. Selbst die zukünftigen Gefreiten blieben noch wach und feierten unsere Heimfahrt mit. Es gab aber auch jene, die sich verkrochen hatten um ihre Tränen nicht zu zeigen. So ein Abgang war eine sehr emotionale Angelegenheit. Seitdem wir bei dem „Verein“ dabei waren hatten wir diesen Tag herbeigesehnt.
Zwölf Uhr sollte die offizielle Verabschiedung in einer Schule in Wernigerode stattfinden und bis dahin werden die mich schon ablösen, dachte ich. Dann war es endlich so weit, mein Nachfolger wurde „vergattert“ und mein letzter Dienst war beendet. Bis zur erhofften Abfahrt um 11 Uhr war jetzt noch genug Zeit um sich gebührend von den anderen Jungs zu verabschieden. Es wurden sich demonstrativ die Armeeklamotten ausgezogen und genüsslich die Zivilkleidung übergestreift und trotz des besonderen Tages oder gerade wegen des besonderen Tages wurden immer wieder kleine Späße über die verbleibende Dienstzeit der anderen gemacht. Am häufigsten fiel das Wort „Tagesilo“. Wenn es auch nicht mehr so ernst gemeint war, wie das ein oder andere Mal im zurückliegenden Halbjahr. Warum sollte es den Jungs bessergehen als uns, vor 180 Tagen. Der selbst gebastelte Bandmaßbehälter hatte nun ausgedient, er wurde aber immer noch voller Stolz getragen.
Adressen wurden ausgetauscht und das Versprechen abgegeben, einmal zu schreiben, dazu immer noch ein weiterer Kaffee getrunken. Eingeschenkt aus einer großen Blechkanne in die eigene Plastetasse. Wir hatten es nun wirklich geschafft. Die Spinte wurden geräumt und noch kleine „verbotene Dinge“ wechselten den Besitzer. Es hört sich heute einfach nur lächerlich an, wenn man die „Lukis“ (Luftsitzkissen) Radios, Spiritustabletten, EK-Artikel oder Bauteile für Bandmaßgehäuse als verboten bezeichnete. Ja, aber damals war es ebenso. Es wurde sich verabschiedet und bei dem einen oder anderen flossen wieder Tränen. Das war aber in diesem Moment keine Schande oder Schwäche. Man verabschiedete sich ja von Leuten, mit denen man mindestens ein halbes Jahr nicht nur die Grenze bewacht, sondern auch schöne Dinge und lustige Sachen erlebt hatte.
Später ging es mit gepackten Taschen zum Fahrzeug, mit dem wir die letzte Fahrt unserer Dienstzeit antreten sollten. Doch es wäre zu schön, wenn hier in der Grenzkompanie mal etwas funktionieren würde.
Der „Abgangs- LO“ von Robur stand bereit obwohl er schon einen technischen Mangel hatte – das Getriebe sollte kaputt sein. Die nächste aber auch letzte Schikane nahm seinen Lauf. Wir saßen auf dem Fahrzeug und hofften weiterhin pünktlich in Wernigerode zu sein. Der Vorschlag, einen anderen LO zu nehmen konnten nur von uns „Zivilisten“ kommen, denn man musste ja die Gefechtsbereitschaft der Kompanie gewährleisten. Denn wenn die Gefechtsbereitschaft nicht gewährleistet ist, ist der Sozialismus in großer Gefahr. Und der strategisch ganz wichtige Ort Rothesütte könne seine Bestimmung nicht erfüllen. Obwohl da ein kaputter LKW in der Einfahrt stand und andere Fahrzeuge sowieso nicht vorbeifahren konnten. Da war wieder diese Lächerlichkeit bei diesem „Unternehmen“. Der Mannschaftswagen wurde fahrbereit gemeldet.
Der Motor sprang unter den spöttischen Jubelrufen vieler Anwesenden an und fuhr endlich vom Hof, doch das Schalten der Gänge bereitete dem Fahrer hörbare Schwierigkeiten.
Da die Uhr bereits 11.30 Uhr anzeigte, war an eine pünktliche Abreise aus Wernigerode nicht mehr zu denken.
In Wernigerode warteten bereits einige unserer Angehörigen, denen es auch nicht viel besser erging. Die Fahrpläne hatte man vorher schon gründlich studiert und die Gedanken kreisten über die Abfahrtszeiten der Züge oder Busse und deren Anschlussverbindungen. Ich war davon wenigstens nicht betroffen und daher ganz entspannt, denn ich habe mit einem Kumpel, aus einem Nachbarort die Heimfahrt geplant. Seine Eltern holten ihn mit dem PKW ab und für mich war da auch noch Platz frei. Doch unser Abtransport endete bereits nach mehreren Metern, aber weit genug von der Kompanie entfernt um vielleicht schnelle Hilfe zu holen. Das Abgangslied war jedenfalls noch nicht zu Ende gesungen, als das erwartete Malheur, uns erwischte. Ja gut, ein Unfall wäre schlimmer gewesen, aber an so einem Tag ist eine Panne einfach nur schlecht. Da im Grenzgebiet der Verkehr eher gering war, warteten wir lange bis ein Fahrzeug vorbeikam. Dann wurde unsere Geduld wiederum auf die Probe gestellt warten…warten…warten. Aber das waren wir ja durch die letzten Monate gewohnt. Nach fast 2 Stunden passierte dann etwas Überraschendes. Eine Sache an die wir fast nicht mehr geglaubt hatten. Der Sozialismus war nun doch äußerst geschwächt, denn man hatte die Gefechtsbereitschaft der 8. Kompanie auf’s Spiel gesetzt, in dem man uns, einen Zweiten und dieses Mal einen funktionierenden LO geschickt hatte. Wir durften tatsächlich umsteigen. Die Laune war dadurch wieder etwas besser geworden, aber der Gedanke was noch alles passieren könnte, lähmte die ehemalige überschäumende Freude.
Sollte ich es jetzt wirklich überstanden haben? Ich stelle mir heute noch immer wieder viele Fragen und niemand sollte mir darauf Antworten geben. Selbst spätere Recherchen und die Einsicht in meine Stasiakte gaben mir keine Gewissheiten. Zu viele Zeilen waren darin geschwärzt und ich vermute, dass die Zeit als Grenzer komplett entfernt wurde.
Auch meine Fragen, wieso ich überhaupt an die Grenze kam? Wieso sind diese vielen Dinge passiert, die ich hier erlebt hatte? War das alles nur Zufall oder hatte man mich sogar bewusst provoziert und auf die Probe gestellt? Oder war ich doch nur ein Sandkorn in der Wüste und ich habe mir das alles bloß eingebildet?
Herbst- Heimgang Rufe erschallten wieder und kurz vor Wernigerode wurde noch einmal das Grenzer Lied aus voller Kehle gesungen. Als wir dann endlich in der Schule ankamen, trafen wir nicht auf freudestrahlende Angehörige, sondern auf eine verärgerte und unruhige Menschengruppe und ein paar Stabsoffiziere, die den Zeitpunkt unserer Ankunft herbeigesehnt hatten und nun bestimmt sehr froh darüber waren, aus der bestehenden unangenehmen Situation herauszukommen.
Was war hier geschehen? Kurz nach 12.00 Uhr, als die anderen EK´s (Entlassungskandidaten) bereits angetreten waren und alle immer noch hofften, dass wir, die 8. Kompanie endlich auftauchen würde, ergoss sich ein mächtiges Unwetter über Wernigerode. Die Schule war an diesem Tag geschlossen, darum fanden die Angehörigen kaum Unterstellmöglichkeiten. Nur ein überdachter Fahrradständer bot etwas Schutz vor dem heftigen Regenguss. Auch die „noch“ Soldaten in Zivil, wollten sich unterstellen, aber das Militär ist hart.
So standen die Jungs auf dem freien Platz und warteten, bis der heftige Schauer vorbei war. Auch die Offiziere waren völlig durchnässt und haben dann doch entschieden, die Verabschiedung ohne die 8. Kompanie durchzuführen. Die Angehörigen betrachteten diesen Akt als pure Willkür und Schikane, aber wir kannten das ja aus den gesamten 18 Monaten des Grundwehrdienstes.
Die drei anderen Kompanien unseres Bataillons waren schon lange weg, aber die Stabsoffiziere mussten sich immer noch die heftigen Beschimpfungen der anderen wartenden Familienangehörigen anhören. Nach dem wir endlich angekommen waren, nahmen wir noch einmal Aufstellung. Vor der Ansprache, erhielten wir noch, unsere verbotenen persönlichen Gegenstände zurück. Diese Dinge hatten in so einem „Lager“ eben nichts zu suchen. Ich bekam mein Radio „Cora“ und ein kaputtes Luftkissen zurück.
Alles Dinge, die mir 3 Wochen vor Dienstende bei einer Schrankkontrolle, weggenommen wurden. Aber diese Dinge habe ich natürlich sofort heimlich an den Fahrer, einen Soldaten des LKW weitergereicht. Ein Altengeschenk zum Abschluss, wie wir es nannten. Dann ließen wir noch einmal das für uns so sinnlose „blablabla“ über uns ergehen und es war geschafft. Lange vor dieser geplanten Abreise, hatten wir uns vorgenommen, mit dem Zug nach Hause zu fahren um dabei, das eine oder andere Bier zu kippen und so richtig zu feiern. Aber es wurde ja nichts daraus und es war vielleicht auch gut so. Denn auch bei der Heimreise hat man schon manchmal einige betrunkene Heimkehrer festgenommen, denn man ist ja noch bis 24 Uhr Angehöriger der Grenztruppen. So wurde es uns jedenfalls immer „eingehämmert“.
Auf unserer Heimfahrt im Auto, diskutierten wir dann noch heftig über die „sinnlosen“ Anweisungen und die nicht nachzuvollziehenden Befehle, die bei der Verabschiedung gegeben wurden. Aber es hatte ja nun ein Ende, ein glückliches Ende. Endlich wieder nach Hause zu kommen zu meiner kleinen Tochter und meiner Frau. Der Gedanke daran stimmte mich sehr froh.