Jeden Monat hat uns Eva Mutscher mit Gedichten und Erzählungen erfreut.
Heute veröffentlicht oberlausitz-art den vorerst letzten Beitrag der Schriftstellerin.
Unter der Rubrik “Mit Herz und Sinn – Geschichten, Gedichte, Gedanken“ schenkte Sie uns vergnügliche und nachdenkliche Augenblicke.
Oberlausitz-art bedankt sich auch im Namen der Leser bei Eva Mutscher und wünscht weiterhin viel Erfolg.
Herz über Kopf – Geschichtensammlung
Der Wald der Wünsche
Der Mond wanderte wie jede Nacht über den Himmel und schaute hinab auf die schlafende Welt. Er war ein gewissenhafter Wächter und sah überall nach, ob sich die Menschen zur Ruhe gelegt hatten. Wohlwollend blickte er auf die Häuser, die sich im Grau der Nacht aneinanderschmiegten. Alles war still und dunkel.
Doch was war das? In der Ferne schimmerten helle Punkte. Der Mond wanderte näher. Tatsächlich, am Rand des Ortes entdeckte er drei Häuser, aus denen Licht schien.
„Das ist ungewöhnlich zu dieser Zeit“, murmelte er. „Ich sollte mich darum kümmern.“
Weil der Mond aber seine Bahn nicht verlassen wollte, beschloss er, ein paar Sternschnuppen auf die Reise zu schicken. Die konnten in Ruhe nach dem Rechten sehen. Er streckte seinen silbrigen Arm aus und stupste die träumenden Sternenkinder an.
„Aufgewacht! Ich habe einen Auftrag für euch! Drei Mutige voran!“
Die kleinen Sterne funkelten ihn an. „Wir würden gern noch ein wenig hier oben bleiben.“
Da erklärte ihnen der Mond, wie wichtig die Aufgabe war.
„Denkt daran, wenn Menschen nachts nicht schlafen, steckt oft ein großer Kummer dahinter, nicht selten eine riesige, unerfüllte Sehnsucht. Wenn sie sehen, wie ihr hinabfallt, dürfen sie sich etwas wünschen. Dann müsst ihr nicht verglühen, sondern könnt euch in Sternelfen verwandeln. Ihr werdet die Menschen so lange begleiten, bis der Wunsch in Erfüllung geht.“
Die Sternenkinder beratschlagten, wer sich bereit für diese Reise fühlte.
„Oh, mein liebes Dreigestirn, wollt ihr es wagen?“, rief der Mond erfreut, als sich drei Sterne für den wichtigen Dienst meldeten. „Funkel, Glitzer und Strahlchen! Ich glaube, ihr seid wie geschaffen für dieses Abenteuer.“
Während sich oben am Himmel die drei Mutigen von den anderen Sternen verabschiedeten, wurde auf der Erde, hinter der Gardine eines beleuchteten Fensters, ein Schatten sichtbar. Bald darauf öffnete sich das Fenster. Ein Mädchen setzte sich auf das Fensterbrett.
Der Mond schob vorbeiziehende Schleierwolken zur Seite, um besser zu sehen.
Das Mädchen hatte verweinte Augen. Unablässig tropften Tränen von der spitzen Nase auf die Zeitschrift in ihren Händen. Das blasse Gesicht wurde von dünnen Haarsträhnen umrahmt, die nicht in der Lage waren, die großen Ohren zu verstecken. Immer wieder glitten ihre Finger über das Bild mit dem Idol, das sie so bewunderte. Der Tränenfluss hinterließ wellige Flecken auf dem Papier. Langsam rutschte die Zeitschrift über ihre Knie, die kantig unter dem Nachthemd hervortraten, und fiel auf den Boden.
„So werde ich niemals aussehen“ schluchzte das Mädchen. Ihr verschleierter Blick hob sich und irrte durch die Nacht. Ganz kurz stockte er am Fenster des Nebenhauses. Es war erleuchtet. Hatte der Nachbar, dieser komische Kauz, schon wieder vergessen, das Licht zu löschen? Aber ihre eigenen Sorgen waren zu groß, als dass sie sich darüber Gedanken gemacht hätte.
Der schmächtige Mann öffnete die Flügel seines Fensters so weit, als wollte er dem Mond Einlass in seine kummervolle Welt gewähren. Dann stemmte er die Hanteln, bis die Adern an seinem Hals hervortraten und seine Knie zu zittern begannen. Keuchend schleuderte er wütende Blicke auf das Familienfoto an der Wand.
„Eines Tages sehe ich aus wie du!“
Die große, muskulöse Gestalt seines Bruders lächelte auf ihn herab. Erschöpft taumelte der Mann ans Fenster und rang nach Luft. Als sich sein Atem beruhigte, wurde er für einen Moment abgelenkt. Was war dort drüben los?
In hohem Bogen flogen bunte Stoffe aus dem Fenster. Aber ehe er sich zu wundern begann, hatte ihn die eigene Verzweiflung wieder im Würgegriff.
Der Mond allerdings beobachtete alles genau und vernahm eine verzweifelte Frauenstimme: „Wie eine Presswurst seh‘ ich aus! Weg damit!“ Schon wieder nahm ein zusammengeknülltes Kleid den Weg zu dem traurigen Häufchen vor dem Fenster im Garten. „Nichts von alldem brauch ich mehr“, wimmerte die Frau. „Ich gehe sowieso nie mehr aus!“
Sie rieb sich die Augen, rumorte eine Weile im Inneren, dann erschien sie erneut am Fenster. Der viereckige Kasten in ihren hoch erhobenen Händen nahm scheppernd den Weg seiner Vorgänger.
„Schöne Freundin!“, würgte die Frau hervor. „Schenkt mir ihre Waage, weil sie ja keine nötig hat!“
Hoch oben warteten der Mond und seine Sternenkinder auf einen günstigen Moment. Als der Kummer der drei Verzweifelten am größten war und sie hilfesuchend in den Nachthimmel schauten, sprangen Funkel, Glitzer und Strahlchen nacheinander ab und flogen als Sternschnuppen der Erde entgegen.
Das Mädchen riss die Augen auf und konnte es kaum fassen, dass gerade jetzt und sicher nur für sie allein, eine Sternschnuppe vom Himmel fiel. Inbrünstig flüsterte sie:
„Ich möchte endlich schön sein, so schön wie du auf dem Bild, so wunderwunderschön!“ Hoffnungsvoll schloss das Mädchen die Augen.
Die Worte des Nachbarn waren nicht weniger eindringlich, als er staunend seine Sternschnuppe entdeckte. „Nichts anderes wünsch ich mir, als genauso schön zu sein wie mein Bruder.“
Auch die dritte Sternschnuppe kreuzte den tränenverhangenen Blick der Frau, deren Kleiderschrank sich inzwischen fast geleert hatte.
„Mein sehnlichster Wunsch ist, schön zu sein“, stieß sie aus, während ein letztes Schluchzen sie schüttelte. „Wenn es geht, ein bisschen schöner als meine Freundin!“, fügte sie schnell hinzu und verschlang die Sternschnuppe mit den Augen.
Aus: Eva Mutscher, Im Wald der Wünsche, Teil der Geschichtensammlung „Herz über Kopf“
© 2023 Verlag am Eschbach, Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern
ISBN-10 : 3869177721 ISBN-13 : 978-3869177724