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Heute gibt’s mal Eisbein

von | 10. Oktober 2024

An irgendeinem Freitag, Mitte der neunziger Jahre, saßen mein Bruder und ich, in Mutters Küche.

Sie hatte uns zu Kohlrübeneintopf eingeladen. 

 

 

 

 

Kennengelernt hatten wir diesen einfachen Schmaus, Anfang der siebziger Jahre durch unsere Berliner Oma, die uns einige Wochen im Jahr besuchte und für uns kochte. Sie erklärte meinem Bruder und mir, dass Kohlrüben herzhafter und gesünder als Mohrrüben seien und besser sättigten, besonders mit Schweinefleisch und Kartoffeln. Tatsächlich schmeckte dieser Eintopf viel besser als die Eintöpfe in der Schulspeisung. Die gab es immer freitags. Und immer mit einer wässrigen Brühe. Ich aß es nur widerwillig! Bei Oma und auch bei Mutter gab es solch dünne Brühe nicht. Hier wurde mit Weizenmehl ordentlich angedickt. Dass diese Einlage wahrscheinlich eher für die reichliche Sättigung sorgte, sollte ich erst viel später erkennen.

Mitte der neunziger Jahre war eine Kohlrübe selten in der Gemüseabteilung unserer Kaufhalle zu finden. Umso stolzer war Mutter, diese rar gewordene Feldfrucht aufgetrieben zu haben und uns den Altklassiger nach vielen Jahren, wieder einmal zu präsentieren.

Es schmeckte und versetzte mich für einen Moment in meine Kindheit. Gemeinsam mit meinem Bruder in Mutters Küche sitzen, zu dritt, so wie früher, ließ mich große Behaglichkeit empfinden. Mutter meinte: „Das könnten wir doch öfter tun, dass ich freitags für uns koche.“

Obwohl mein Bruder und ich längst eigenen Familien hatten und gut versorgt waren, wurde für mich das Freitag-Mittagessen bei Mutter zu einer festen Instanz.

Diese zwei Stunden gehörten uns und unserem gemeinsamen Mittagessen. Beim Kaffee danach fragte sie mich meist, was ich mir für den kommenden Freitag zu Essen wünschte: Mutter war hervorragende Köchin und Meisterin der einfachen Hausmannskost. Gulasch, Rouladen oder Schweinekamm, ganz weit oben auf dem Speiseplan standen Buletten und vieles mehr wechselten sich an den Freitagen ab. Meine Wünsche wurden Woche für Woche erfüllt. Manchmal fiel mir schon gar nichts mehr ein, was unseren Speiseplan noch bereichern könnte.

Sichtlich hatte meine Mutter eine Woche zuvor vergessen zu fragen, was ich mir für den kommenden Freitag wünschte. Möglicherweise hatte sie die Frage absichtlich unter den Tisch fallen lassen.

Der Geruch von Lorbeer, Piment und weiteren Zutaten einer kräftigen Brühe, begrüßten mich beim Eintreten in ihre Küche. Mutter blickte kurz auf, mit den Worten: „Und heute gibt’s mal Eisbein.“ Es klang fast wie eine Entschuldigung und sie wirkte etwas verschämt beim Ankündigen des gewaltigen Mahls. Vielleicht auch deshalb, weil sie wusste, Eisbein gehört nicht zu meinen Lieblingsspeisen. Ihre war es allemal. Mit Kartoffelklößen und Sauerkraut, beides nach Rezepten ihrer schlesischen Schwiegermutter, machten diese Kalorienbombe dann doch zum Festmal. Ich beschränkte mich auf das magere Fleisch, Mutter schien das Fett mit viel Senf gut zu vertragen. Schon deshalb, weil sie darauf schwor, dass eine Silberkugeltablette Cholecysmon nach dem Essen, sofortige Abhilfe bei übermäßigem Völlegefühl schafft, und das überflüssige Fett imnu abbaut! Mutter nahm meistens zwei davon. Sie war glücklich, dass es mir so gut schmeckte und immer mal wieder, wenn die Frage nach meinem Wunschessen ausblieb, hieß es: „Heute gibt’s mal Eisbein…“

Gerade in den Neunzigern, durften wir von unseren westdeutschen Brüdern und Schwestern so viele neue Erkenntnisse, besonders in Bezug auf gesunde Ernährung erfahren. Das zuviel Weizenmehl und Schweinefett nicht gut ist, wussten wir ja. Aber warum der einst so saftige Broiler, durch fettarme und oft trockene Hähnchen ersetzt wurde, verstand ich nicht. Jegliche Gemüse seien ohne Vitamine oder anderen wertvollen Stoffen, erklärte man uns. Keine Tomate, kein Salatblatt und kein Apfel sollte man mehr essen. Dafür gab es Gott sei Dank Nahrungsergänzungsmittel in Pillenform. Diese sorgen für die richtige Vitamin- und Energiemenge, so schworen uns die Verkäufer dieser chemischen Wunderwaffen und sorgten in erster Linie für gut gefüllte Kassen bei sich, und den meist amerikanischen Herstellern.

Mutter hielt an ihrer bewährten Hausmannskost fest und versprach, wenigstens das Andicken der Soßen mit Weizenmehl beim Schweinebraten wegzulassen. Warum auch künftig die Soßen dennoch so sämig waren, sollte ihr Geheimnis bleiben. Einen Salat oder einen Apfel als Nachtisch, gab es weiterhin. Glücklicherweise haben wir keinen Schaden genommen.

Nicht nur das gemeinsame Essen wurde zum Kult. Das Blättern in Fotoalben und alten Briefen, unsere Liebe zur Musik, die Auswertung ihrer Fernsehserien, die ich aus Solidarität mit ihr anschaute und der Dorftratsch, gehörten zu unseren Freitagen, zwanzig Jahre lang.

Mit der Zeit fiel mir auf, dass Mutter immer mehr vergaß. Mal die Zwiebeln beim Kartoffelsalat, Salz und Pfeffer bei den Buletten, oder Eier beim Klossteig. So manche Begebenheit aus früheren Jahren, erzählte sie völlig anders. Das führte oft zu Streitereien. Sie kannte plötzlich ganz neue Regeln beim Rommee spielen und behauptete, dass immer so gespielt zu haben. War es das Alter? Immerhin war sie 83 Jahre alt. Andere Vermutungen ließ ich nicht zu. Demenz? Mutter?  Nein, das kann nicht sein!

Doch! Die Diagnose bestätigte den Verdacht.  Es hatte sich etwas in ihr Hirn geschlichen, dass da nicht hingehörte, ihre Gedanken durcheinanderbrachte, die Sinne vernebelte und das tägliche Leben mit vielen neuen Hürden bestückte und in wenigen Monaten, die gesamte Familie beschäftigte.

Schon in meiner Kindheit, halfen mein Bruder und ich unserer Mutter in der Küche. Vom Kartoffelschälen, Rouladen wickeln bis zum Pudding kochen, war ich geübt und so bereiteten meine Mutter und ich unser Freitagsmenü nun gemeinsam.

Es gab Tage, an denen ich kaum etwas von ihrer Demenz gespürt habe und an anderen Tagen dachte ich, im falschen Film zu sitzen.

Irgendwann musste ihr Herd außer Betrieb gesetzt werden, zu gefährlich wurden ihre unkontrollierten Handlungen damit.

Da übernahm ich das Kochen ganz. Eine Stunde früher als sonst, schloss ich mein Büro ab, fuhr heim zu mir und bereitete unser Mittagessen. Dann holte ich Mutter von zuhause ab und wir feierten unseren Freitag!

Geduldig hörte ich ihr zu, wenn sie mir dasselbe berichtete wie eine Woche zuvor, manchmal genossen wir einfach nur die Stille und waren dankbar, Zusammen zu sein.

Die Herbstsonne schien durch die bunten Blätter der Buchen und Birken vom Buchberg in mein Küchenfenster. Es muss gelingen! Ich habe es mir von einem Freund ganz genau erklären lassen und festgestellt, das war ja gar nicht so kompliziert!

Freitagmittag. Ich holte Mutter ab und beim Betreten unserer Küche fragte sie mich, was es denn heute zu essen gäbe? Ich strahlte sie erwartungsvoll an: „Na heute gibts mal Eisbein“ Ihre Augen leuchteten und sie fragte, ob ich auch genug Senf dahätte. Ich bejahte und war froh, dass sie nicht nach den Silberkugel-Tabletten fragte, denn die besaß ich nicht. Sie haute ordentlich rein, nickte bei jedem Bissen und lächelte mich dabei an. Es schmeckte ihr. Mir fehlen nicht nur die Freitage mit meiner Mutter.

 

Fotos:

Eisbein,  cegoh-pixabay (frei)

Küche, Schloß Hainewalde, (Haiko Spottke) aus “Glücksorte in der Oberlausitz”          Reiseführer Droste-Verlag

 

 

 

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