(Die Burg Hochmut und den Zirkus Übermut hat Konrad hinter sich gelassen. Nun entdeckt er am Rande eines dunklen Waldes eine Hütte.)
… Vor der Hütte saß in einem Schaukelstuhl ein altes Männlein und wiegte bedächtig hin und her, vor und zurück, auf und nieder.
„Setz dich zu mir“, forderte es Konrad auf und wies auf einen Baumstumpf, der ihm als Hocker dienen sollte. „Ich bin der Waldhüter“, sagte das Männlein, „und habe dich erwartet.“
Konrad staunte. „Wie kann das sein?“
„Hat dich nicht dein Großvater losgeschickt, um etwas zu suchen?“
„Das stimmt“, sagte Konrad überrascht. „Einen besonderen Mut suche ich, damit mein Leben gelingt.“
„Dann finde heraus, ob du bei mir richtig bist, hier im Wald Wankelmut.“
Konrad schnappte nach Luft. „Wie bitte? Wankelmut? Dieses Wort kenne ich nicht. Aus welcher Zeit stammt das denn? Und was hat es mit dem Mut zu tun, den ich suche?“
Das Männlein hielt im Schaukeln inne, dann stieß es sich wieder ab. „Das will ich dir erklären. Du denkst bei Mut nur an Tapferkeit und große Heldentaten. Mut hat aber auch etwas mit deinem Gemüt zu tun, damit, wie es in deinem Herzen und in deiner Seele aussieht.“ Das Männchen verstummte, und sah Konrad an. Dann pflückte es sich ein Löwenzahnblatt und begann es genüsslich zu verspeisen.
„Und was bedeutet das für mich?“, wollte Konrad wissen.
„Es bedeutet, dass du hier hindurch musst. Danach wirst du wissen, ob dich Wankelmut voran bringt.“
„Sag mir einfach, ob er mir nützt, dann spare ich Zeit“, bat Konrad das Männlein, aber das schüttelte den Kopf. „Ich will dich gern heute Abend bewirten, aber morgen musst du selbst herausfinden, was dahinter steckt.“ Der Waldhüter kicherte. „Es wird aufregend werden, vielleicht auch verwirrend. Du kannst mir später berichten, wir sprechen uns bald wieder.“
„Bestimmt nicht“, widersprach Konrad. „Der Wald ist riesig. Mit Sicherheit kehre ich nicht noch einmal zurück.“
Der Waldhüter winkte ab. „Jetzt komm, ich bereite dir ein Nachtlager.“
Als Konrad sich zur Ruhe begab, nahm er sich vor, frühzeitig aufzubrechen. Doch als er im Morgengrauen die Augen aufschlug, schien es ihm plötzlich recht ungemütlich draußen. „Ob ich noch ein wenig liegen bleibe?“, dachte er. „Die Ruhe tut mir gut. Aber nein, ich wollte zeitig auf den Beinen sein.“ Ein Fuß angelte nach seiner Hose, dann verschwand er wieder unter der Bettdecke. „Man kann seine Meinung auch mal ändern“, murmelte er und schlief wieder ein. Der Wald Wankelmut hatte schon seine Arme nach ihm ausgestreckt.
Als Konrad beim dritten Versuch endlich aufbrach, schaute ihm der Waldhüter vergnügt hinterher.
Nach einer Stunde gabelte sich der Weg in verschiedene Richtungen. Konrad entdeckte staunend an jedem Abzweig einen Wegweiser. Er erfuhr die Himmelsrichtung, die Länge, die Besonderheit und Schwierigkeit des Weges und die Dauer, die er unterwegs sein würde. Konrad versuchte sich alles zu merken, dann ging er zum nächsten und zum übernächsten Schild. Er lief von einem zum anderen, um danach wieder von vorn anzufangen. Er hatte so viel über die verschiedenen Möglichkeiten erfahren, dass ihm der Kopf schwirrte.
Erschöpft ließ er sich im Gras nieder. „Es ist unmöglich“, stöhnte er. „Wie soll ich voran kommen, wenn ich mich nicht entscheiden kann?“ Er begann an den Fingern abzuzählen, ob er den kürzesten Weg nehmen sollte oder lieber den bequemen Weg. Sollte er allein durch das Dickicht kriechen, um niemandem zu begegnen oder sich auf dem breiten Weg anderen Wanderern anschließen?
Konrad fühlte sich hilflos wie nie in seinem Leben. Kaum hatte er sich für eine Möglichkeit begeistert, schob sich schon eine andere in den Vordergrund.
Endlich fasste er einen Entschluss. Der Weg, der ihm am nächsten war, den würde er nehmen. Konrad machte zielstrebig zwei, drei Schritte, dann drehte sich um und lief zurück. Wenn es nicht der richtige war?
Erleichtert hörte er, wie sich hinter ihm Stimmen näherten. Bald war eine Gruppe Wanderer an der Weggabelung eingetroffen. Nun wollte er beobachten, wie sich die anderen verhielten. „Das ist sicher hilfreich“, dachte Konrad. Doch er täuschte sich.
Jeder der Ankommenden strebte in seine eigene Richtung und versuchte Konrad zu überzeugen, warum nur diese die einzig richtige sei. Das verwirrte ihn so, dass er noch verzagter wurde. Ehe er entscheiden konnte, einen von ihnen zu begleiten, waren sie schon in alle Richtungen verschwunden.
„Ich bin so müde“, jammerte er. Aber die Worte seines Großvaters spukten in seinem Kopf und mahnten ihn. „Lauf einfach los, Konrad! Mach den ersten Schritt!“
Eine Idee ließ ihn aufspringen. Mit geschlossenen Augen begann er sich im Kreis zu drehen. Als er sie öffnete, lief er los, genau in die Richtung, die ihm vor der Nase lag. Nun ging es endlich voran. Er war wieder unterwegs und strebte seinem Ziel entgegen. Weil er voller Tatendrang marschierte, dauerte es kaum eine Stunde, bis sich der Wald lichtete. Konrad trat mit frohem Mut aus den Bäumen hervor und erstarrte.
Schaukelnd und mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht erwartete ihn der Waldhüter vor seiner Hütte.
Konrad fühlte Unmut in sich aufsteigen. Wie konnte dieses Männlein hier sitzen und fröhlich beobachten, wie er wertvolle Zeit verlor? Zeit, die er brauchte, um sein Lebensglück zu finden! Schon lagen ihm heftige Worte auf den Lippen, doch der Waldhüter kam ihm zuvor.
„Bist ein ganzes Stück vorangekommen. Wie gefällt er dir, der Wald Wankelmut?“
„Von wegen vorankommen!“, gab Konrad ärgerlich zurück. „Ich bin im Kreis gelaufen. Jetzt steh ich genau da, wo ich gestern war.“
„Der Ort ist derselbe, aber du bist nicht mehr derselbe, Konrad. Hast etwas dazugelernt, wie ich meine, und das wird dir helfen. Glaub mir, kaum ein Lebensweg führt schnurstracks geradeaus. Manchmal sind Umwege nützlich.“ …
Aus:
Eva Mutscher, Konrad im Land Siebenmut. Eine Geschichte vom Losgehen und Ankommen, ISBN 978-3-86917-837-0
© 2021 Verlag am Eschbach, Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern.