Sie spürte Johannes‘ glühende Augen auf ihrem Gesicht ruhen. Die ersten Schweißtropfen fanden ihren Weg den Rücken hinunter. Vorsichtig drehte sie sich ihm zu. Nur so weit, dass sie ihn gerade so anschauen konnte. Seine Augen wurden schmaler. Er schien nach einer Antwort zu suchen, dessen Frage er noch nicht einmal genau wusste. Sie musste sich etwas einfallen lassen, bevor er dahinter kam.
»Wie wäre es jetzt mit einem Glas Champagner zur Einstimmung, bevor wir uns daran machen, die Selleriecreme mit Nuss-Croûtons zu zaubern?«, fragte sie laut mit erzwungener Fröhlichkeit. Dabei legte sie ihren Kopf an Johannes‘ Schulter ab. Auch wenn ihr das erneut einen Rückenschauer einbrachte. An der aufgesetzten Zustimmung der Freunde erkannte sie deren Erleichterung, der Situation entkommen zu sein.
Sie fühlte unauffällig nach dem kleinen Fläschchen in ihrer Kostümjacke. Die täglichen Übungen der letzten Wochen, einhändig den Deckel der Flasche zu lösen und in Windeseile gerade so viele Tropfen wie nötig rauszuklopfen, hatten sich ausgezahlt. Kein Mensch würde mitbekommen, wenn diese besondere Würze in Johannes‘ Suppenteller landete. Sie wusste, dass es jetzt kein Zurück mehr für sie geben konnte. Alles war perfekt geplant! Endlich konnte sich ihre Gleichheit einmal auszahlen. Das, was sie die ganzen Jahre genervt hatte, benutzte sie jetzt, um alle an der Nase herum zuführen. Dass Johannes nichts bemerkte, ihr Versteckspiel nicht erkannte, ließ sie nur noch entschlossener handeln. Liebevoll streichelte sie noch einmal das Fläschen und trank ihr Champagnerglas in einem Zug leer.
***
Lächelnd lag Anita auf dem bequemen Bett. Sie hatte die Augen geschlossen und genoss die letzten warmen Sonnenstrahlen des Tages auf ihrer Haut. Wenn sich das Leben doch immer so leicht anfühlen würde wie in ihrem Traum. Alles war hell und freundlich und sie hatte das Gefühl, sie könnte fliegen.
Aber die Wirklichkeit war anders. Im wahren Leben steckte sie in einem engen Korsett von Verpflichtungen und Erwartungen. Jeder wollte etwas von ihr und sie blieb dabei schon lange auf der Strecke. Sie wusste, dass sie sich in guter Gesellschaft befand. Viele Frauen klagten über die Mehrfachbelastungen. Also, wozu sollte sie jammern? Wenn Johannes doch wenigstens ein bisschen netter zu ihr wäre. Aber er hatte sich schon lange auf und davon gemacht. Liebevolle Gefühle gab es keine mehr. Nur noch Hass! Diese ständigen Sticheleien von ihm hatten ihr allmählich jegliches Selbstwertgefühl genommen. Er hat es sogar geschafft, dass selbst die Kinder nur noch wenig Respekt vor ihr hatten. Auch wenn sie das nicht immer wollten. Aber sie wollten es ihrem Vater recht machen. Also durften sie ihre Mutter nicht lieben. Und als ob das nicht schon genug Demütigung wäre, hatte er vor ein paar Wochen beschlossen, sich offiziell zu seiner neuen Liebschaft zu bekennen. Nicht, dass er zu ihr ziehen wollte. Er hatte eher an ein Pendeln zwischen den beiden Welten gedacht. Spaß und Sex auf der einen Seite, Verantwortung für die Kinder auf der anderen.
Anita spürte die Wärme der Sonne nicht mehr. Grimmig schlug sie die Augen auf. Sie konnte sich genau an den Moment erinnern, an dem sie diese erniedrigende Geschichte ihrer Zwillingsschwester Talea erzählt hatte. Talea war anders als sie. Sie hatte ihr Leben im Griff. Und wahrscheinlich hatte Talea immer das Gefühl, sich um sie kümmern zu müssen. Das musste sie auch oft, denn die letzten Jahre ging alles bergab. Sie wurde von einer attraktiven, erfolgreichen Frau zu einem Nichts. Für Talea war mit Johannes‘ Ankündigung seiner offenen Liebschaft das Maß voll. Übervoll! Wütend hatte sie Anita aufgefordert, sich zu trennen. Sofort! Aber das ging nicht. Die Kinder wollten bei Papa bleiben. Und sie bei den Kindern.
Das Blitzen in Taleas Augen hatte Anita Angst eingejagt. Auch wenn sie sich äußerlich bis auf’s Haar glichen, war Talea doch wesentlich entschlussfreudiger.
Anita stöhnte. Sie musste sich wieder ihrem Alltag zuwenden. Was stand heute nochmal auf dem Programm? Die Kinder? Schliefen heute bei Freunden. Warum eigentlich? Anita hatte das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Und warum war ihr Gehirn eigentlich so träge? Das erlaubte sie sich doch sonst nicht tagsüber.
Fieberhaft suchte sie nach der Antwort. Sie ließ den Tag in Gedanken vorüberziehen. Mit einem Ruck war sie hellwach. Talea war spontan am Nachmittag vorbeigekommen. Mit fadenscheinigen Argumenten hatte sie duschen, sich ein Kleid ausleihen und Anitas Lieblingsfrisur gesteckt bekommen wollen. Wo Anita sich doch selbst herrichten musste. Schließlich war heute der von ihr organisierte Kochkurs. Und das wusste Talea. Mit jähem Entsetzen wollte Anita aufspringen. Erst jetzt spürte sie, dass ihre Arme und Beine am Bett fixiert waren. Nicht fest, aber auch nicht zu lösen. Was war hier los? Was hatte Talea vor? Panisch schaute sie sich um und erkannte, dass sie nichts tun konnte. Deshalb wollte Talea sogar ihr Parfüm benutzen und hatte sie nach all ihren Freunden ausgefragt. Sie schaute auf die Uhr, die auf dem Sideboard stand. Kurz vor acht. Der Kochkurs war schon eine Stunde im Gange und Johannes hatte sich nicht bei ihr gemeldet. Das konnte nur eines bedeuten! Erschöpft ließ sie sich in ihr Kissen sinken.
Anita spürte ihren Herzschlag gleichmäßiger pulsieren. Ihre Gedanken kamen zur Ruhe. Sie schloss ihre Augen wieder. Ein kleines Licht erschien. Wo? Im Herzen? Konnte das Hoffnung sein? Hoffnung auf ein neues Leben? Auf ein Leben ohne Demütigungen?
Sie vertraute Talea. Schließlich wusste ihre Schwester schon immer, was das Beste für sie war. Und wie sie schon viele Dinge geregelt hatte, würde sie auch diesmal Anita unter die Arme greifen. Und sei es, um ihr das Leben zu retten.