Jedes Jahr verbrachte ich den größten Teil meiner Sommerferien bei meinen Großeltern in Glienicke nördlich von Berlin. Sie wohnten in einem kleinen, flachen Häuschen auf einem großen Grundstück mit riesigen Kiefern, dichten Sträuchern, sieben Obstbäumen und zahlreichen Gemüsebeeten. Jeden Tag schlug ich meinen Bauch mit Augustäpfeln und gelben Pflaumen voll, während meine Großmutter mit dem vielen Obst die Einweckgläser füllte, sodass es den ganzen Winter für Kompott reichte.
Meine Lieblingsblumen waren Dahlien. Da sie deutlich größer waren als ich, stellte ich mich auf die Zehenspitzen um die gelben, die rot – weißen und lilafarbenen Blüten genau anzusehen. Ein besonderes Lob gab es, wenn ich einen Korb mit Kienäpfeln gesammelt hatte. Das war nicht meine Lieblingsaufgabe und so bummelte ich oft einen ganzen Tag herum, bis ich endlich eine Kiepe gefüllt hatte. Trotzdem brachte mir meine Großmutter dafür jedes Mal eine kleine Schokolade vom Kaufmann mit.
1966 schafften sich meine Großeltern einen Fernseher an. Damals glaubte ich, in Berlin gäbe es nur Westfernsehen, denn ein anderes Programm sahen wir nie in diesen Ferien. Westernserien wie „Bonanza“ oder „Rauchende Colts“ saugte ich förmlich auf. Kein Wunder, dass anschließend der riesige Sandkasten im Garten meiner Großeltern zur Prärie wurde. Die Kiefern standen jetzt in den Rocky Mountains, die Kaninchen im Stall wurden zu Farmtieren und der Haselnussstrauch hinterm Waschhaus war mein sicheres Versteck, um „Rothäute“ aufzuspüren.
Mein Großvater baute mir ein kleines Gewehr, so war ich gerüstet, für den Wilden Westen im Garten meiner Großeltern.
Wie jedes Jahr war ich mit dem Zug nach Glienicke gefahren. Meine Mutter hatte für mich eine Fahrkarte gekauft und mich im Zug dem Schaffner übergeben. So reiste ich im Dienstabteil bis nach Berlin-Schöneweide. Ein großes Packet mit Wurstschnitten und eine Thermoskanne mit heißem Tee zählten zu meinem Proviant. Ausreichend, um damit bis an die Ostsee zu kommen. Schon ab Königs-Wusterhausen klebte ich jedes Mal am Fenster und hielt Ausschau nach der Berliner S-Bahn. Die liebte ich besonders. Es faszinierte mich, dass ein Zug so ganz ohne Lok unterwegs sein konnte. Endlich in Schöneweide angekommen empfing mich meine Großmutter auf dem Bahnsteig. Ich freute mich riesig, nicht nur wegen ihr, sondern auch, weil es jetzt einige Stationen mit der S-Bahn weiter ging. Das Geräusch der Elektromotoren, das Klacken und Zischen beim Schließen der Türen. Dann fuhr sie los und ich hatte das Gefühl, in den Sitz gedrückt zu werden. Wenn uns eine Bahn auf dem anderen Gleis begegnete, wirkte die Fahrt doppelt so schnell. Ich hätte ewig damit unterwegs sein können.
Anschließend fuhren wir noch zwei Stationen mit der Straßenbahn und dann weiter mit dem Bus, den riesigen gelben Doppeldeckern. Mitten auf der Strecke, in Schildow, hielten wir an. Glienicke gehörte zu dem fünf Kilometer breiten Sperrbereich entlang der Grenze zu West-Berlin. Zwei Grenzsoldaten bestiegen den Bus und kontrollierten die Personalausweise. Für mich als Achtjährigen war das damals eine spannende Angelegenheit.
Als ich in diesem Jahr aus den Ferien zurückkehrte und meinen täglichen Schulweg ging, geschah etwas Aufregendes. Entlang der Hauptstraße laufend, blieb ich am Kurhaus stehen. Von dort oben hatte man einen guten Blick hinüber zum Bahnhof der Schmalspurbahn. Ich traute meinen Augen nicht. Auf dem Bahnhof stand ein Wagen der Berliner S-Bahn. Unfassbar.
Das musste ich aus der Nähe betrachten und so rannte ich los den Kurhausberg hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf in Richtung Bahnhof. Dort angekommen, sah ich keine S-Bahn, noch nicht mal die Bimmelbahn. Dabei hatte ich sie doch mit eigenen Augen gesehen. Zwar hatte sie nur aus einem Wagen bestanden, aber der Bahnhof in Jonsdorf war schließlich kleiner als der in Berlin. Und dann noch die Farben, Braun und Gelb, das musste die S-Bahn gewesen sein! Wir waren schließlich ein Kurort, das wusste ich genau. Alle zwei Wochen erreichten uns neue Urlauber und viele aus Berlin. Ich war mir sicher, dass die S-Bahn wiederkommen würde und ich in den nächsten Ferien mit ihr bis Berlin fahren könnte. Das würde der Hammer werden. In der Schule erzählte ich keinem von der Berliner S-Bahn, die ich auf dem Jonsdorfer Bahnhof gesehen hatte. Am Abend zu Hause musste ich meine wahnsinnige Entdeckung jedoch unbedingt loswerden und erzählte es meiner Mutter. Die schüttelte nur den Kopf und meinte, das sei völliger Blödsinn. Das könne nicht sein. Mein Bruder, dem ich ausmalte, dass er beim nächsten Mal mit zur Oma fahren könne, weil wir nicht umsteigen müssten, glaubte mir. Der war allerdings erst fünfeinhalb und glaubte mir sowieso alles.
Ab diesen Tag schaute ich jeden Morgen vom Kurhaus hinüber zum Bahnhof. Die Berliner S-Bahn in Jonsdorf blieb jedoch verschwunden.
Einige Jahre später las ich in einer Broschüre das erste Mal vom Dieseltriebwagen der Zittauer Kleinbahn. Er war in den dreißiger Jahren gebaut worden und bis in die sechziger Jahre ab und zu von Zittau nach Jonsdorf oder Oybin gefahren. Da er nicht besonders zuverlässig war, sogar manchmal aus den Gleisen rutschte und im Winter kaum die Höhenmeter bis nach Jonsdorf schaffte, wurde der Fahrbetrieb eingestellt. Schlagartig wurde mir klar, was ich damals auf dem Bahnhof in Jonsdorf gesehen hatte. Keiner konnte mir sagen, ob der Triebwagen noch existierte. Und jeder der etwas über ihn gehört oder gelesen hatte, war sich sicher, dass er nie wieder fahren würde!
Wieder einige Jahre später entdeckte ich ihn schließlich im Lockschuppen des Bertsdorfer Bahnhofes. Obwohl es ziemlich dunkel war, konnte ich ihn ganz genau erkennen. Etwas kleiner als die Berliner S-Bahn war er schon. Man hatte ihn auseinandergebaut und in viele Einzelteile zerlegt, aber es gab ihn tatsächlich.
Das neue Jahrtausend war gerade einmal sieben Jahre alt, als ein Flyer in unserem Briefkasten landete und ein Schmalspurbahnfest ankündigte. Die Überraschung sei, nach umfangreicher Instandsetzung, die Inbetriebnahme des neu restaurierten Triebwagens.
Endlich war es so weit, ich löste ein Ticket am Bertsdorfer Bahnhof für das Fest und eine einfache Fahrt. Schon von Weitem konnte ich den Triebwagen sehen. Mein Herz schlug höher. Auf dem Bahnsteig angekommen, stand ich nun endlich vor ihm. Nach über vierzig Jahren. Sein Dieselmotor hörte sich satt und kraftvoll an. Gerade noch zwei Plätze waren frei, als hätte er auf mich gewartet. Jetzt konnte ich ihn nicht nur sehen, sondern auch anfassen, einsteigen und sogar mit ihm fahren. Der Schaffner schloss die Türen und los ging die Fahrt. Ich schaute dem Lokführer oder besser gesagt dem Triebfahrzeugführer über die Schulter und konnte erleben, wie wir an Fahrt gewannen. Ich setzte mich wieder hin und blickte aus dem Fenster. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und saß in der Berliner S- Bahn. Wir fuhren aber nicht nach Berlin, sondern nach Oybin.
Bild im Text, vom Triebwagen der Zittauer Schmalspurbahn, Annett Lorenz, Jonsdorf
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