Die Geschichte „Ein Lächeln von Herzen“ will unser Augenmerk auf eine märchenhaft alte Weisheit lenken:
Ein Lächeln kostet nichts, und ist doch nicht umsonst – jedes Lächeln macht die Welt ein Stückchen freundlicher.
Ein Lächeln von Herzen
Es ist lange her, da lebte ein Mann, dem war das Lächeln aus dem Gesicht gefallen. Er hatte es nicht einmal gemerkt, bei all der Sorge und Mühe, die jeder Tag mit sich brachte. Als er eines Morgens in den Spiegel sah, erschrak er vor dem Bild, das ihn anstarrte. Furchen durchzogen die Stirn und die Mundwinkel bogen sich abwärts, als hinge an jeder Seite ein Pfund Blei.
„Kein Wunder!“, brummte er. „Wer weiß, was mich heute erwartet.“
Das Frühstück, das seine Frau liebevoll zubereitet hatte, konnte ihn nicht aufheitern. Mürrisch schob er den halbvollen Teller beiseite, wischte sich die Krümel vom Mund und stand auf. Er griff nach seiner Jacke und war schon auf dem Weg nach draußen.
„Ich wünsch dir einen schönen Tag, Albert!“, rief Hilda ihm hinterher und hoffte, dass ihre Freundlichkeit ihn erreichen würde. Aber wie so oft in letzter Zeit bekam sie als Antwort nur unwilliges Knurren.
Und doch hatte sie ihn lieb. Es tat ihr weh, wenn sie seine gebeugten Schultern sah. Vor allem fehlte ihr seine Fröhlichkeit. Irgendetwas muss geschehen, sagte sie sich. Tagein, tagaus sein missmutiges Gesicht ertragen, das war zu viel verlangt! Noch heute würde sie ihn sanft und bestimmt ermuntern, wieder freundlicher zu blicken.
Als Albert nach Hause kam, versuchte sie geschickt, ihm ein Lächeln zu entlocken, aber sie erreichte nur, dass er ungehalten wurde. Wie sollte er wohl lachen, wenn es nichts zu lachen gäbe, musste sie sich anhören. Die Welt, die Leute, das Wetter, alles war schlecht. Da brauchte er nicht noch eine nörgelnde Frau.
„Du musst nicht gleich lachen“, lenkte sie ein, „ein Lächeln würde mir schon genügen.“ Albert runzelte die Stirn und fuhr sie an: „Und woher soll ich das nehmen?“
Ärgerlich über so viel Starrsinn brach es aus ihr heraus: „Such dir doch eins! Geh! Schau dich um! Vielleicht liegt eins auf der Straße!“
Albert presste den Mund zusammen und schob sie beiseite. Dann holte er seinen Rucksack hervor, stopfte ein paar Sachen hinein und zog die Wanderschuhe an. „Genau das werd‘ ich tun, dann bist du mich für ein paar Tage los“, sagte er, schnappte seinen Hut und stapfte davon.
Hilda schaute ihm kopfschüttelnd nach und hörte noch eine Weile sein Schimpfen: „Natürlich! Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Haufenweise liegt das Lächeln herum, gleich werde ich darüber stolpern!“ Dann verschmolz sein Schatten mit den Büschen, die in der Ferne den Weg säumten.
Langsam legte sich Hildas Aufregung. Vielleicht war es gut, wenn er sich eine Weile woanders umsah.
Albert marschierte mit grimmigem Gesicht über Stock und Stein, unbeachtet wogte die Sommerlandschaft an ihm vorbei. Als er endlich den Kopf hob, bemerkte er, dass er die vertraute Gegend verlassen hatte. Der Pfad schlängelte sich nun durch Kiefern, die immer dichter wurden und den Weg düster machten. Der Wald schien kein Ende zu nehmen. Albert atmete auf, als er einen Lichtschimmer entdeckte. Ein rostiges Schild baumelte an einem Pfahl und verriet ihm, dass er in der Nähe einer Herberge war. ‚Wenn sie verlassen wäre, gäbe es kein Licht‘, dachte Albert und schöpfte Hoffnung auf eine Mahlzeit und ein Bett.
Der Wirt hinter der Theke musterte ihn verstohlen, fragte nach seinen Wünschen und machte sich in der Küche zu schaffen.
Albert hatte kaum den ersten Bissen getan, da kamen drei seltsame Gestalten zur Tür herein. Fremd, ja sogar ein wenig unheimlich sahen sie aus, und sie steuerten genau auf Alberts Tisch zu. Der hob kaum den Kopf, weil ihm nicht nach Unterhaltung zumute war, aber das störte die neuen Gäste nicht. Sie ließen sich neben ihm nieder und beäugten ihn ungeniert. Albert hörte, wie sie sich lustig über ihn machten.
„Ein echter Miesepeter!“, sagte der eine und der nächste spottete: „Hat wohl sein Lächeln verloren.“ Und so ging es weiter.
Albert versuchte, sie nicht zu beachten, doch bald konnte er sich nicht mehr beherrschen. „Wenn ihr so neunmalklug seid, dann sagt mir doch, woher ich dieses, anscheinend so begehrte Lächeln nehmen soll. Meine Frau hätte gern eins, nämlich für mich!“
Die drei blinzelten sich zu. „Glaubst du, wir sind zufällig hier?“, zischte der erste und beugte sich vertraulich vor. „Ich habe eben eine Kiste besorgt, neue Ware, da sollte ein Passendes dabei sein.“
„Wovon sprichst du?“ Albert wurde hellhörig.
„Von einem Lächeln natürlich! Kein gewöhnliches, versteht sich. Es ist künstlich, nutzt sich nicht ab. Man kann es Tag und Nacht tragen, nach Belieben aufsetzen oder verstecken. Es lässt sich sogar einfrieren. Natürlich hat es seinen Preis.“ Mit halb geschlossenen Lidern wisperte er eine Summe, von der Albert übel wurde. „Da müsste ich mein Häuschen verkaufen und die Wiese dazu! Und dann ist es nicht mal echt!“ Er schüttelte den Kopf.
Der geheimnisvolle Händler trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. „Falsch oder echt, was spielt das für eine Rolle! Greif zu! Bevor nichts mehr da ist.“
Ehe Albert antworten konnte, drängte der Nächste: „Pass auf! Mein Angebot wird dir besser gefallen!“
„Und wo ist der Haken?“, fragte Albert und fingerte an seinem Kragen.
Aus: Eva Mutscher, Ein Lächeln von Herzen
2016 Verlag am Eschbach, Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern
Zum 90. Geburtstag des Malers und Bildhauers Dieter Strahl,
erscheint für 2024 ein Kalender mit einer Auswahl seiner Werke.
Dieter Strahl 1934 – 2018
Im Leben von Dieter Strahl spielten Literatur, Poesie, Geschichte und Geschichten eine große Rolle. Und so tauchen gerade in den durch Ölkreide-Farbstifte akribisch komponierten Werken auch Themen aus den Spektren der Bücher auf, denen er sich zum jeweiligen Zeitpunkt widmete.
Gedanken zum Mythos des Heiligen Gral, in seinen verschiedenen Facetten („Jesus und Maria Magdalena“, „Die Zeugung des Merowech“), sind ebenso zu finden, wie Interpretationen zu unterschiedlichen Religionen oder Mythologien („Daphne“, „Die Nornen“) und deren Schöpfungs- oder Untergangsgeschichten („Der Rückruf“, „Baumgeborene“, „Die Erdmutter verlässt ihr Gehäuse“). Die Sorge um den Erhalt des Planeten („Zerstörung“, „Wenn ein Schwan stirbt“) trieben den Künstler dabei genauso um, wie die Befürchtung einer Erblindung („Toskana – Amore Mio“). Auch waren die Verehrung und Verneigung vor der Schönheit der Schöpfung in Kombination mit Abschied, Tod und Trauer wiederkehrende Motive in seiner Arbeit (Das Geschöpf“, „Melancholia“, „In Memoria“).
Festzuhalten bleibt, dass die Bilder, die in dieser Art erdacht und geschaffen wurden, im Gesamtwerk von Dieter Strahl als Besonderheit angesehen werden können.
Der Kalender ist in der Galerie Arkadenhof Löbau zu den Öffnungszeiten erhältlich. Nach Abzug der Druckkosten geht der Erlös in die Spende für den Sonnenstrahl e.V.
Die darin gezeigten Arbeiten gehören zum unverkäuflichen Fundus bzw. Nachlass von Dieter.
Aquarelle von Helga Pilz
natürlich – abstrakt – nuancenreich
Große Aufmerksamkeit erhielt die heutige Ausstellungseröffnung in der Stadtbibliothek Bautzen.
Malerin Frau Helga Pilz präsentiert hier
bis 03. Mai 2024 ihre Aquarellarbeiten den Besuchern.
Zu sehen ist die Ausstellung während der offiziellen Öffnungszeiten der Stadtbibliothek.
Ein ungewöhnlicher Drehtag in der Energiefabrik Knappenrode.
Erzählt von Sylvia Mönnich
Als ich die Geschichte meiner Eltern in meinem Erstlingswerk „Vertrieben und dann?“ zu Papier gebracht habe, ahnte ich nicht, dass sich so viele Menschen für das Schicksal der Ungarn-Deutschen und Schlesier als Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg interessieren werden. Meine Mutti war zehn Jahre alt, als am 25. August 1947 Stiefel gegen die Tür traten und die ungarn-deutsche Familie Hals über Kopf ihr Zuhause verlassen musste.
Der 29. Juni 1948 – Tag des Hochfestes der katholischen Kirche zu Ehren der Apostel Peter und Paul – brachte auch meinem Vati kein Glück. Seine Mutter hatte gerade die Wäsche im Bottich eingeweicht. Das kümmerte die Befehlshaber, die an die Wohnungstür wummerten, nicht. Innerhalb von drei Stunden mussten sie abholbereit sein und ihr geliebtes Schlesien Richtung Deutschland verlassen. Ihre wenigen Sachen nahmen sie nass mit, andere hatten sie nicht.
Im Jahr 2023 gibt es nicht mehr viele Zeitzeugen, die aus eigener Erfahrung über die Vertreibung der seit dem 18. Jahrhundert in Ungarn ansässigen Deutschen berichten können. Elisabeth ist eine davon und freut sich, dass der Landesverbands-Vorsitzende der Vertriebenen und Spätaussiedler in Sachsen, Frank Hirche, sie gebeten hat, ihre prägenden Erlebnisse aus vergangenen Tagen in Form eines kleinen Filmbeitrages der Öffentlichkeit mitzuteilen.
Klappe, die Erste!
Elisabeth ist 86 Jahre alt. Sie hat sich schick angezogen und überprüft noch einmal den Sitz ihrer Frisur. Keiner soll ihr ansehen, wie aufgeregt sie ist. Noch nie in ihrem Leben hat sie mit einem professionellen Filmteam zusammengearbeitet.
Das eigens für die Aufnahmen mit Elisabeth eingerichtete Filmstudio in der Energiefabrik Knappenrode ist abgedunkelt. Die Kameraleute haben Platz genommen und richten ihre Scheinwerfer auf den Stuhl, auf dem sie gleich sitzen wird. Die TV-Produzentin Britta Walter beruhigt Elisabeth. Sie solle mit ihren eigenen Worten über die Vertreibung, aber auch die Ankunft und Integration in Deutschland berichten.
„Frau Bartsch, wie haben Sie die Vertreibung als Kind erlebt?“, fragt die Produzentin.
Elisabeth faltet die Hände im Schoß und denkt nach. Längst hat sie mir von ihrer Kinderzeit und dem Schockerlebnis der Vertreibung erzählt. Und trotzdem ist es für sie etwas ganz anderes, die Tatsachen in einem Interview vor einem professionellen Kamerateam zu wiederholen und zu wissen, dass ihre Worte im Transferraum Heimat der Energiefabrik Knappenrode für ein breites Publikum zu hören sein werden.
Sie beginnt: „Ich wurde in Felsönána geboren als Elisabeth Schmidt. Wir haben eine Bauernhof betrieben, hatten ganz viele Hühner, auch Gänse und Enten, eben eine richtige Bauernwirtschaft, auch Felder … Unsere fünf Weingärten waren ganz schön weit entfernt und dort bin ich mit meiner Oma und meiner Mutti immer hingelaufen. Überhaupt sind wir sehr viel gelaufen.“
Elisabeth macht Pause und denkt an den Tag im August, der ihr Leben auf den Kopf stellte. Sie wird nie vergessen, wie sie vertrieben wurden, aber es fällt ihr nicht leicht, das Ereignis in Worte zu fassen.
„Es war der 25. August 1947 und es geschah von jetzt auf gleich. Wir haben vorher nichts gewusst. Ein Jahr zuvor, so um Weihnachten herum, sprach man mal davon, aber dann war das passé.“
Nachdenklich senkt Elisabeth den Kopf, bevor sie fortfährt:
„Ich war zehn Jahre und es wummerte an der Tür. Eine Klingel hatten wir nicht. Raus hieß es, alles zusammenpacken. Das Bettzeug war den Eltern und Großeltern wichtig, weil niemand wusste, wo es hingeht. Nach zwei Stunden stand der LKW auf der Straße, auf den wir die Sachen laden mussten. Das war nicht einfach.“
Britta Walter ermutigt Elisabeth, sich Zeit zu lassen.
„Wir besaßen eine Truhe, in die wir unsere Sachen steckten. Mein Opa war blind und deshalb stellten wir einen Stuhl auf die Ladeklappe. Den haben sie wieder runtergeholt, bis sie bemerkten, dass der Großvater ihn wirklich brauchte. Der LKW war voll mit Menschen und fuhr wie der Teufel. Wir saßen auf unseren Bündeln und die Akazienzweige der Straßenbäume schlugen uns ins Gesicht. Als Kind hatte ich wahnsinnige Angst, runtergerissen zu werden.“
Britta Walter stellt viele Fragen. Elisabeth taucht in ihre Erinnerungen ein und möchte noch vieles berichten. Doch für alles reicht die Zeit nicht. Schnell sind 90 Minuten vergangen, die zu einem kleinen Beitrag zusammengeschnitten und auf den Monitoren der Energiefabrik zu sehen sein werden.
Es berührt mich tief, dass Geschichte weiterlebt. In Sachsen hält der Landesverband der Vertriebenen und Spätaussiedler das Andenken der nach dem Krieg der Heimat Verwiesenen hoch. Der Landesverband Sachsen und sein Vorsitzender, Frank Hirche, errichteten im Jahr 2020 im ehemaligen Empfangsgebäude der Energiefabrik Knappenrode eine Bildungs- und Begegnungsstätte mit dem würdevollen Namen „Erinnerung, Begegnung, Integration – Stiftung der Vertriebenen im Freistaat Sachsen“. Im Transferraum Heimat können sich Jugendliche und Schulklassen informieren und in unserer schnelllebigen Zeit auch die Berichte der Zeitzeugen anhören. Den Ausstellungsteil „Ankunft, Aufnahme und Integration nach 1945“ ergänzen Themeninseln zu den Gebieten Heimat, Bildung und Tradition.
Am 10. September 2023 begehen die Sachsen traditionell den sächsischen Gedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung nach dem Zweiten Weltkrieg in der Gedenkstätte Knappenrode. Meine Eltern werden dabei sein und Mutti wird ihr eigenes Interview an den Monitoren des Ausstellungsraumes verfolgen können. Gerne gibt sie allen Interessierten Auskunft auf ihre Fragen zum damaligen Geschehen. Denn obwohl sie noch ein Kind war, haben sich die Tage, Wochen und Monate danach tief in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Die Geschichte, die sich wunderbar für eine kleine Liegestuhl-Auszeit eignet, erinnert uns daran, wieder einmal nachzuforschen, wer oder was in unserem Leben regiert.
Gern bediene ich mich der Form des Märchens, wenn ich mich auf Wesentliches besinnen möchte. Vielleicht lassen auch Sie sich einladen, herauszufinden, wie der Unterschied zwischen „müssen“, „wollen“ und „dürfen“ unsere Tage in die ein oder andere Richtung lenkt.
Die Hütte am Waldrand
In einem Land, nicht weit von hier, hatte vor langer Zeit ein unerbittliches Wesen die Herrschaft übernommen. Es war ein rechtes Ungetüm. In einer steifen Uniform marschierte es umher und streifte gnadenlos jedem, dem es begegnete, unsichtbare Fesseln über.
Sein Name war ‚das ärgerliche Muss‘.
Die Menschen litten unter ihm, doch niemand lehnte sich auf. Seine Macht glich einer Schraubzwinge, die einengte und niederbeugte. Wo es auftauchte, überschattete ein dunkler Zwang jedes Wort, jedes Tun und jeden Gedanken. Niemand kam dahinter, warum die Tage grauer, die Pflichten schwerer und die Arbeit immer erdrückender wurde.
Nur eine Hütte am Waldrand hatte das ärgerliche Muss auf seinem Feldzug durch das Land übersehen. Hier lebte ein Mann, der sich zurückgezogen hatte, um dem Ungetüm aus dem Weg zu gehen. Bisher war ihm das gelungen. Hatte er deshalb stets ein fröhliches Lied auf den Lippen? Die Menschen im nahe gelegenen Dorf wunderten sich über sein vergnügtes Wesen. Wann immer sie in der Nähe zu tun hatten, schauten sie bei der Hütte des Waldarbeiters vorbei. Manchmal lud er sie ein hereinzukommen, doch keiner nahm sich Zeit dafür. Nur ein Gruß kam zurück. „Ich würde ja gern, aber du weißt doch, ich muss …“
Dann schaute ihnen der Mann kopfschüttelnd hinterher und war froh, an einem so abgelegenen Ort zu leben.
Eines Morgens streifte das ärgerliche Muss gerade in dieser Gegend umher, wie immer auf der Suche nach einem Opfer. Gierig wanderte sein Blick am Waldsaum entlang, da entdeckte es die gemütliche Behausung und rieb sich die Hände.
„Ha!“, rief es. „Hier war ich noch nie. Ich muss zeigen, wer Herr im Lande ist.“
Stramm marschierte es der Hütte entgegen, dann donnerte es mit der Faust an die Tür. Niemand bat es herein.
Das ärgerliche Muss wurde ein gewaltiges Stück ärgerlicher und bewegte sich schnaufend zum Fenster. Als es hinein stierte, sah es einen Mann auf der Bettkante sitzen, der sich reckte und streckte.
„Weißt du nicht, dass du aufstehen musst?“, brüllte es und fuchtelte drohend mit den Armen.
Der Mann wandte sich erstaunt um und rief: „Guten Morgen! Und … das muss ich ganz und gar nicht.“
Das ärgerliche Muss rieb sich die Ohren. Hörte es richtig? Noch nie hatte jemand gewagt, ihm zu widersprechen.
„Komm heraus, Mensch!“, befahl es. Dann mäßigte es seinen Ton. „Ich schenke dir zur Begrüßung eine Umarmung.“
Leise klirrten die unsichtbaren Ketten, die das Ungetüm mit sich trug. Gleich würden sie den Widerspenstigen umschlingen und gefügig machen. Hämisch grinsend murmelte es: „Du musst, du musst, du musst … Dir bleibt nichts anderes übrig.“
Da öffnete sich die Tür und der Mann trat auf die Schwelle. Aufrecht stand er da und sagte schlicht: „Ich muss nicht.“
Das ärgerliche Muss war so verblüfft, dass es vergaß, die Schlinge nach ihm auszuwerfen.
„Du musst nicht?“, schrie es und dampfende Wut stieg ihn ihm auf.
Doch der Mann zeigte keine Spur von Furcht.
Aus der Wut wurde Verwunderung und nach einer Weile Neugier.
„Du bist doch ein Mensch, oder nicht?“, vergewisserte sich das Ungetüm. „Alle Menschen müssen! Sie leben unter meiner Herrschaft! Ich sorge dafür, dass die Welt funktioniert!“
Der Mann biss sich lächelnd auf die Lippen und blieb still. Das brachte das ärgerliche Muss noch mehr in Rage.
„Du musst!“, schrie es.
„Ich muss nicht“, kam zurück.
Das Ungetüm wurde rot im Gesicht und schnaubte:
„Ich werde dich lehren, mir zu gehorchen!“
Es warf seine Fesseln aus, doch an der aufrechten Gestalt wollten sie nicht hängen bleiben. Der Mann hob die Schultern und sah sein Gegenüber schelmisch an.
Fassungslos über diese Dreistigkeit, beschloss das Ungetüm, sich einer List zu bedienen.
„Ich sehe, du bist ein besonderer Mensch. Du verdienst eine Ausnahme“, grunzte es scheinheilig. „Ich schlage dir einen Handel vor: Du musst nicht aufstehen. Nein, du musst es nicht. Nach einer Woche komme ich, um zu sehen, wie es dir ergangen ist.“ Es winkte ab. „Ich weiß es schon jetzt. Auf Knien wirst du mich anflehen, wieder Ordnung in dein Leben zu bringen. Ab diesem Tag verlange ich unbedingten Gehorsam von dir.“
Der Mann dachte nach, nickte und stellte seine Bedingung: „Wenn du Unrecht hast, wird der Spieß umgedreht. Dann wirst du tun, was ich dir sage.“
„Abgemacht!“ Das ärgerliche Muss stampfte davon und brabbelte vor sich hin:
„Nie und nimmer wird das geschehen. Ich kenne die Menschen. Er wird sich nicht aus dem Bett finden, den halben Tag wird er verschlafen. Was zu tun ist, bleibt liegen, bald geht ihm das Essen aus, und die saubere Kleidung auch. Was kaputt ist, wird nicht repariert … Wenn das Holz verbraucht ist, bleibt der Ofen kalt.“ Es schaute noch einmal zurück. „Hungrig und frierend wirst du mich erwarten und dich mir unterwerfen! So wie es die anderen tun.“
Lange Zeit war ich überzeugt, dass ein Garten-Blumenstrauß nichts als Freude macht, – dem, der ihn pflückt und dem, der ihn bekommt.
In den letzten Jahren habe ich erfahren, dass dieses Thema umstritten ist.
Vielleicht kann folgende Geschichte für blumige Vermittlung sorgen.
Johanna richtete sich auf und streckte den Rücken. Einen schönen Strauß hatte sie gepflückt, bunt und nicht zu groß – perfekt für einen Kaffeetisch. Sie fingerte in ihrer Gartenhose nach dem Band, da fiel ihr Blick auf einen Trieb des Rosenstockes, der hinüber zum Lavendel wuchs. „Dort bekommst du wenig Licht“, murmelte Johanna und versuchte, dem Zweig eine andere Richtung zu geben. Es gelang ihr nicht. „Na, da bekommt die Rosi noch ein Röschen dazu.“ Mit der Gartenschere gab sie dem Stiel die richtige Länge, dann platzierte sie die Rose zwischen den anderen Blüten im Strauß und dekorierte ihn mit Blättern. So farbenfroh und fröhlich war er geworden, dass sie ihn am liebsten selbst behalten hätte. Aber nein. Sie war gespannt auf die Augen ihrer alten Schulfreundin, wenn sie ihr heute Nachmittag den Strauß überreichen würde. Endlich hatten sie einmal Zeit füreinander gefunden.
“Schön, dass du da bist. Komm rein!“, rief Rosemarie, als sie die Tür öffnete, doch Johanna blieb stehen und hielt ihr den Strauß erwartungsvoll entgegen. „Für dich!“
„Oh! Hast du deinen Garten geplündert?“ Bevor Johanna ihr die Blumen in die Hand drücken konnte, war Rosemarie in der Küche verschwunden und klapperte mit Geschirr.
Johanna unterdrückte die Enttäuschung, folgte ihr in die Wohnung und versuchte es noch einmal: „Ist das nicht eine Farbenpracht?“
„Hm, wirklich hübsch, aber warum abpflücken? Ich denk, du liebst Blumen.“
Johanna schluckte.
„Jetzt lassen wir es uns schmecken“, schlug Rosemarie vor und schob ihren Besuch zum Kaffeetisch, „und dann wird erzählt.“
Johanna hielt den Strauß noch immer in der Hand. „Der muss ins Wasser.“
„Ach ja, mal sehn, ob ich was Passendes finde.“
Aus den Augenwinkeln beobachtete Johanna, wie ihr Strauß in einer großen Vase versank und neben dem Spülbecken stehen blieb.
‚Mach dir nichts draus‘, redete sie sich ein, ‚du wirst doch deswegen nicht sauer sein.‘ Allerdings schmeckte ihr der Kuchen nicht so recht und nur mit halbem Ohr vernahm sie das Geplauder der Freundin.
„Gesprächig bist du nicht gerade“, hörte sie Rosemarie sagen und bemühte sich, aufmerksamer zu sein. Sie erinnerten sich an gemeinsame Erlebnisse und schauten Fotos an. Wie viel hatten sie früher zusammen unternommen. Im Nu war es Abend.
„Wann treffen wir uns das nächste Mal?“, fragte Rosemarie gut gelaunt beim Abschied.
„Mal sehn, ich melde mich“, gab Johanna zurück und merkte, dass sie im Moment gar keine Lust darauf hatte. ‚Plündern‘ – spukte in ihrem Kopf.
Wochen vergingen und Johanna schob den Anruf immer wieder auf. War sie so eine Mimose? Rosemarie würde sich über das lange Schweigen wundern. Andererseits – warum hatte sie sich nicht einfach über den Blumenstrauß gefreut, ohne diese Bemerkung? Eine Weile kämpfte Johanna mit sich, dann dachte sie daran, dass die Freundschaft wichtiger war als ihr Stolz. Sie würde jetzt anrufen. Und dann? Erklären, dass sie beleidigt war? Sie kam sich albern vor. Bevor sie zum Hörer greifen konnte, klingelte das Telefon.
„Ach, du bist’s, Rosi“, murmelte Johanna. Das war Gedankenübertragung. „Ja, es soll schön werden am Wochenende. … Ach was, ich hab dich nicht vergessen. … Morgen? Nein, da mach ich Großeinsatz im Garten. … Das ist keine Ausrede. … Was willst du?“
Rosemarie hatte vorgeschlagen, im Garten zu helfen und ließ sich nicht abwimmeln.
‚Ich lass diese Großstadtpflanze doch nicht an meine Blumen‘, war Johannas erster Gedanke. Dann schalt sie sich ein kleinliches Weib. Vielleicht war die gemeinsame Beschäftigung im Garten ganz gut. Es hatte lange nicht geregnet, der Boden war staubig, nur dem Unkraut schien das nichts auszumachen. Auf alle Fälle musste die Hacke ran. Einige Stauden bogen sich unter der Last der Blüten und brauchten eine Stütze. Verblühtes war abzuschneiden, es gab genug zu tun.
Am nächsten Morgen wachte Johanna zeitig auf und als ihr einfiel, dass sie heut zu zweit im Garten arbeiten würden, huschte sie summend ins Bad. Nach dem Frühstück inspizierte sie ihren Geräteschuppen, freute sich über ihre gute Ausrüstung und stellte alles bereit: Spaten, Hacke, Grabegabel, einen großen Korb, Bindedraht und die Gartenschere. Als sie die Wassertonne füllte, hörte sie das Klingeln von Rosemaries Fahrrad.
„Du hast dich aber früh auf den Weg gemacht. Möchtest du einen Kaffee?“
„Lass uns gleich anfangen“, rief Rosemarie während sie sich im Garten umsah. „Aber hör mal, was wollen wir eigentlich machen? Sieht doch gut aus hier.“
Dass Pflanzen, die Unkraut genannt wurden, zwar an Wegrändern, in Wald und Wiese schön aussahen, aber ein Blumenbeet überwuchern konnten, darüber hatte Rosemarie nie nachgedacht. Johanna zeigte ihr, wie hinterlistig manches Schlingkraut sich breit machte und andere Blumen verdrängte, wie viele Pflanzen unzählige Samen verstreuten, die niemals alle auf einem Beet Platz hatten. Rosemarie hörte zu und machte alles, wie Johanna es ihr zeigte.
Die Sonne meinte es gut. Bald hatten beide ihre Ärmel hochgekrempelt und einen Sonnenhut aufgesetzt. Auch der Rücken machte sich bemerkbar, doch Rosemarie war nicht aufzuhalten, grub und hackte und band vorsichtig zarte Ranken an Holzstäbe. Sie wunderte sich, was alles zu tun war. Und noch mehr wunderte sie sich, wie viel Schönes sie entdeckte. Sie vermisste ihre Vormittag-Sendung nicht, sie hörte den Vögeln und Bienen zu, genoss jedes kleines Lüftchen, das ihr erhitztes Gesicht kühlte und atmete immer wieder tief ein, um die vielen Gartendüfte zu genießen.
„Geschafft!“, rief sie, als der letzte Korb mit Unkraut ausgeleert war.
„Gießen müssen wir noch.“ Johanna drückte ihr eine Kanne in die Hand. „Und dann gönnen wir uns was Feines.“
Erschöpft und glücklich saßen die Freundinnen später im Schatten und ließen es sich schmecken. Johanna bemerkte dankbar, dass nicht nur das Unkraut, sondern auch das letztes bisschen Groll verschwunden war. Die Harmonie tat ihr gut.
„Ich bin froh, dass du mir geholfen hast. Womit kann ich dir eine Freude machen?“, fragte sie schließlich. Rosemarie winkte ab. „Was soll das? Hab ich gern gemacht. Obwohl – vielleicht könnte ich mir einen Strauß mitnehmen, da hab ich ein Stückchen Garten im Zimmer.“
Johanna horchte auf. „Was? Du willst meinen Garten plündern?“ Den kleinen Seitenhieb konnte sie sich nicht verkneifen. Rosemarie brauchte eine kleine Weile, dann verstand sie und gab ihrer Freundin einen Klaps auf den Arm. „Guck mal, wie eng das Pfennigkraut steht und die Löwenmäulchen, die kriegen keine Luft. Da ist auch eine Margerite abgeknickt …“ Die beiden Freundinnen sahen sich an und lachten. „In Ordnung, schaffen wir Platz für neue Knospen.“
Gemeinsam schnitten sie einen üppigen Strauß und setzten sich wieder auf die Bank. Auf dem Beet war nicht zu merken, dass etwas fehlte. Zufrieden nickte Johanna. So sollte es sein.
„Ich hab eine Idee“, sagte Rosemarie nach ein paar Minuten. „Der Strauß ist groß, den teile ich. Weißt du, meiner Nachbarin geht’s nicht so gut, die wird sich freuen.“
Glücklich drückte Johanna Rosemaries Hand.
Sie hatte es ja immer gewusst: Arbeit im Garten trug vielerlei gute Früchte.