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„Schrecklich schön“ Teil II Neues aus Finkendörfel

von | 6. Dezember 2020

BeitrBlickpunkt Oberlausitzag für Oberlausitz-Art
Dezember 2020

Neues aus Finkendörfel – „Schrecklich schön“ Teil 2

„Das war noch vor dem Krieg.“ Trude rückte ihren verstauchten Fuß in eine bequemere Position auf dem Schemel. „Ich war ein Kind. So alt wie ihr.“
Die Kinder wechselten einen Blick. Undenkbar, dass die alte Trude mal ein Kind gewesen war wie sie.

„Ich war die Jüngste von vier Kindern und die einzige Tochter“, fuhr Trude fort, als habe sie den Unglauben ihrer jungen Gäste nicht bemerkt. „Unser Vater war da schon tot und meine Brüder alle im Dienst oder in der Lehre.

Seit auch meine Oma Hulda verstorben war, schleppte mich meine Mutter überall mit hin, damit ich nicht allein in unserem alten Haus hier zurückblieb.
Gerade in der Vorweihnachtszeit war ich ganz närrisch darauf. So viele Basteltreffen und Handarbeitsabende! Immer gab es etwas Gutes. Die Frauen erzählten sich allerlei Geschichten, während ich unter dem Tisch spielte und ihnen lauschte. Den neusten Dorftratsch und natürlich – unheimliche Geschichten.“ Jetzt hatte sie die Aufmerksamkeit von Sofie und Rafael, die nebeneinander auf der Couch saßen und Rosinenbrötchen zerkrümelten. Ihnen war schließlich eine echte Geistergeschichte versprochen worden.
„Einmal jedoch – mitten im Advent – bekam ich eine Halsentzündung, nicht schlimm, aber so, dass meine Mutter mich nicht in die kalte Mondnacht mitnehmen wollte. Zu seinem Unglück war gerade mein Bruder Franz zu Hause. Ihm wurde befohlen, mit mir zu Hause zu bleiben. Ihr könnt euch vorstellen, wie begeistert Franz von dieser Aufgabe war.“ Trude zwinkerte. „Der hatte nämlich gerade wieder eine neue Freundin.“
„Wie der Micha!“, rief Rafael. „Der ist auch immer sauer, wenn er auf mich aufpassen soll.“
„Ja haha“, lachte Trude. „Was hat er dir denn gegeben, damit du heute allein auf Gespenstertour gehen kannst, Rafael? Mhm?“
Der kleine Junge senkte den Kopf. Eine Antwort blieb er schuldig.
„Ich bekam seine Wochenration Haferkekse, wenn ich allein bliebe und Mutter nichts sagte“, fuhr Trude mit einem Kopfnicken fort. „Das war es mir wert. Ich hatte keine Angst. Glaubte ich damals zumindest.“
Unruhig rutschte Sofie auf dem Sofa herum. Es interessierte sie wirklich sehr, was der tapferen Trude jemals hatte Angst einjagen können.
„Ich machte es mir also zuerst einmal so richtig gemütlich. Saß auf allen Plätzen, auf denen ich sonst nie sitzen durfte. Nur Oma Huldas Lehnstuhl am Fenster, den wagte ich nicht zu besetzen. Sie fehlte mir. Der Anblick des leeren Stuhls brachte mich zum Weinen. Ich lief in die Schlafkammer, die ich seit Vaters Tod mit Mutter teilte. Da warf ich mich ins Bett und vermisste meine geliebte Oma ganz schrecklich.“ Trude hielt kurz inne. Der Kummer von damals schien ihr plötzlich wieder ganz nah. Sie schluckte ein paarmal. Ihre Stimme war verändert als sie weiterredete. „Von ihr habe ich dieses Kettchen hier bekommen mit dem Kreuz.“ Sie zeigte es ihnen. „Das habe ich immer bei mir.“
„Dies ist hier ein sehr altes Haus“, fuhr sie fort, nachdem sie die Kreuzkette wieder unter ihre Bluse gesteckt hatte. „Über 150 Jahre steht es hier schon am Fuße des Kirchbergs. Es hat vieles gesehen und manchmal denke ich, in den knarrenden Dielen und knackenden Balken ist das Leben gespeichert, das sich hier in den vielen Generationen abgespielt hat. Die Hintertür zum Beispiel hat einen ganz besonderen Klang, wenn man sie schließt. Unnachahmlich und nicht zu vermeiden. Auch wenn meine Brüder noch so schlichen, Mutter wusste immer, wenn sie zu spät heimkehrten. Die Vordertür wurde vorsorglich verriegelt. Auch die anderen Türen im Haus hatten ihren eigenen Klang. Ebenso gaben die Stufen der Stiege ins Dachgeschoss jede ihr spezielles Geräusch. Jeder aus der Familie wusste, an welcher Stelle sich ein Besucher befand, wenn er das Haus betreten hatte oder gar hinauf zu den Schlafkammern stieg. Das half, die Spuren jugendlicher Schandtaten rechtzeitig zu verwischen, bevor Mutter das Zimmer betrat.“ Trude lächelte bei dieser Erinnerung.
„So hatte ich mich auch erst gar nicht so erschreckt, als ich die Hintertür hörte. – Ich dachte, Franz ist doch noch mal zurückgekommen, oder meine Mutter vorzeitig heimgekehrt. Doch es folgten keine weiteren vertrauten Geräusche, weder unten noch auf der Stiege. Das hinterließ eine merkwürdige Lücke. Ich musste nachsehen.“ Mit einer energischen Handbewegung unterstrich Trude das Ansinnen ihres kindlichen Ichs. „Unten war niemand. Ich ging durch alle Räume, prüfte, ob die Hintertür verschlossen war. Alles in Ordnung. – Also bin ich wieder hoch in mein Bett. Lauschte in die stille Nacht. Nur die Kirchturmuhr hörte ich schlagen. – Dann ging wieder die Hintertür. Ich war ganz aufmerksam, ganz wach.“
Die Kinder zogen ihre Knie an den Körper heran. „Der Geist“, flüsterte Sofie. Trude nickte. „Diesmal hörte ich Schritte. Erst unten, dann die erste Stufe auf der Stiege. – Und dann: nichts mehr. – Da wurde ich wütend. Das konnte nur mein Bruder Franz sein, der mir einen Streich spielen wollte. Es wäre nicht der erste dieser Art gewesen. Also stürmte ich hinaus und schrie laut: Ha!“ Die Kinder zuckten zusammen, denn Trude war bei diesem Ausruf nach vorn geschnellt. Zufrieden über die Wirkung ihrer Theatralik ließ sich Trude wieder zurück in den Lehnstuhl fallen. „Aber da war keiner. Keine Menschenseele im ganzen Haus außer der kleinen Trude. – Beschämt und nun doch etwas unsicher bin ich dann wieder in mein Bett gekrochen. Die Ohren waren so gespitzt, dass sie sich fast durch die Bettdecke gebohrt haben. – Gerade als ich bereit war, alles als Fiebereinbildung abzutun und meine Aufmerksamkeit nachzulassen drohte, hörte ich wieder die Hintertür. Dann wieder nichts. Mein Herz schlug bis zum Hals. Erste Schritte auf der Stiege, dann weitere. Diesmal kam derjenige tatsächlich hinauf. Meine Hoffnung wuchs, dass es Mutter sein würde. Doch die Schritte blieben vor der Kammertür stehen, ohne dass sich die in vertrauter Weise geöffnet hätte und Mutter ihren Kopf hereingesteckt, um nach mir zu sehen. Stattdessen drang eisige Kälte durch den Türspalt unten, so als würde sich ein Frostnebel hindurchdrängen und nach mir greifen. Ich verkroch mich schnell unter der Decke, umschloss das Kreuz an meiner Kette und betete um Mutters Rückkehr oder ein anderes Wunder. Und tatsächlich: Der Eisnebel war verschwunden, als ich es wieder wagte unter der Bettdecke vorzulugen. Es war nun wieder ganz still im Haus. Alles Unheimliche hatte sich verzogen. Dennoch hatte ich das deutliche Gefühl, jemand sei im Haus. Das war so eindringlich, dass ich mir schließlich ein Herz fasste und auf Zehenspitzen die Stiege hinunterschlich, ganz am Rand, wo sie die wenigsten Geräusche machte. Niemand war zu sehen und nichts zu hören, als mein eigenes Herzklopfen und mein Atem. Die Wohnzimmertür stand offen. Ein Umstand, den Mutter nie geduldet hätte. Ich sah einen Strahl Mondlicht auf dem Teppich vor der Anrichte. Wie magisch angezogen näherte ich mich der offenen Tür. Ich trat ein. Es war etwas Liebevolles in der Stube, nichts, das mir Angst hätte machen können. So war ich auch gar nicht so erstaunt als ich im Mondlicht meine Oma Hulda sitzen sah, emsig mit ihrer Handarbeit beschäftigt und mir freundlich zunickend.“ Trude nickte wieder versonnen. „‚Von guten Mächten treu und still umgeben …‘“ Eben wollte sie ihre Erzählung fortsetzen, als die drei ganz deutlich die Hintertür hörten. Rafael schlug die Hände vor den Mund. Sofie machte große Augen. Einen Moment war es ganz still, doch dann –
„Mama und Papa sind da“, rief Sofie. Nur wenige Sekunden später betraten Julia und Paul Trudes Wohnstube. Sie wurden so stürmisch von Sofie begrüßt, dass sie fragende Blicke zu Trude warfen. Noch ehe die zu einer Erklärung ansetzen konnte, war EllaMas energische Stimme zu vernehmen. „Hier sind sie ja alle!“ Wie eine Donnergöttin war sie in ihre Mitte getreten. „Ich habe euch gleich noch einen anderen Erzengel mitgebracht. Einen recht zornigen! – Komm rein, Michael: dein Bruder ist hier.“

Ob das wohl gut ausgeht für unser kleines Schreckgespenst Rafael?
In den Raunächten gibt es mehr dazu von mir.

Jetzt wünsche ich Ihnen allen erst einmal eine gesegnete Weihnachtszeit, lichtvolles Hoffen in dunklen Tagen. Bleiben Sie gesund und unverzagt.

Herzlich
Ihre
Sylke Hörhold
www.sylke-hoerhold.de

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