Der Schnee fällt ungezügelt vom Himmel. Die Scheibenwischer klacken geräuschvoll hin und her.
Anke hat alles eingeschaltet, was man bei diesem Wetter einschalten kann.
Antibeschlag und Heizung auf Hochtouren.
Angestrengt schaut sie auf die Rücklichter des vor ihr fahrenden Autos.
»Ich habe es dir ja gleich gesagt. Wir hätten den Zug nehmen sollen. Das wäre viel entspannter.«
Marlies rutscht nervös auf ihrem Beifahrersitz hin und her. Schnellfahrer zischen auf der Überholspur an ihnen vorbei, Schneematsch spritzt hoch, versperrt kurzzeitig die Sicht.
»Soll ich dich mal ablösen?« Anke reagiert genervt: »Gut gemeint, aber dazu brauchen wir erst einmal einen Parkplatz.«
Das seit einer gefühlten halben Stunde vor ihr fahrende Auto mit einem niederländischen Kennzeichen überholt plötzlich ganz mutig das Winterdienstfahrzeug auf der dicht befahrenen Autobahn.
Das Auto schlingert hin und her. Die gelbe Rundumleuchte des Dienstfahrzeuges ist in weißen Nebel eingehüllt.
Marlies hat recht, sie hätten den Zug nehmen sollen … Kaum gedacht, da ist, wie zum Trost, ein Parkplatz in Sicht.
Sie gönnen sich eine Pause und im Restaurant einen Capuccino.
Als sie wieder ins Auto steigen, hat es aufgehört zu schneien. Marlies übernimmt das Steuer, legt eine Musikkassette ein, und fährt beschwingt und entspannt weiter.
Auf der Mautstrecke leuchtet der Schnee wie ein großes silbernes Feld vor ihnen.
Der Brennerpass, die Grenze zwischen dem österreichischen Bundesland Tirol und der zu Italien gehörenden Autonomen Provinz Bozen.
Orte, in denen der Skisport im Mittelpunkt steht.
Die Dolomiten sind die schönsten Bauwerke der Welt, soll Reinhold Messner einmal gesagt haben, der wohl mehr Berge gesehen hat als kaum ein anderer.
Und wer zum ersten Mal in die Dolomitenregion Drei-Zinnen kommt, wird dem Alpinisten sofort recht geben.
Nichts zu groß oder übertrieben modern, sondern genau richtig, um einen entspannten Skiurlaub zu verbringen …
Es ist später Nachmittag, als sie im Urlaubsort ankommen.
Unter dem Abendhimmel liegt die Welt wie frisch geputzt, Lichter funkeln inmitten der dichten Schneedecke wie von kristallenen Sternen übersät.
Der Wirt der Pension empfängt sie mit einem Glas Limoncello – dem Zitronenlikör der Region.
Er erhebt sein Glas: »Auf einen erholsamen Skiurlaub.«
In ihrer Ferienwohnung steht sie dann mit der Freundin auf dem Balkon, atmet die frische Luft tief ein und aus, und schaut in die schneebedeckten Berge.
Ein traumhafter Blick …
Am nächsten Morgen geht es auf die Abfahrtspiste. Die Welt liegt vor ihnen wie frisch geputzt. Die Piste ist wenig befahren und sie genießen es, langsam ohne Eile hinunterzugleiten.
Eine kleine Pause auf halber Strecke. »Wie in dem Märchen von der Schneekönigin«, ruft Anke, und zeigt auf eine kaum sichtbare Berghütte.
Das Dach trägt ein dickes Polster aus Schnee. Schneewehen ringsum an den niedrigen Wänden, nur das Fenster schaut noch heraus, ein still leuchtender Fleck im dichten Weiß.
Marlies kann sich nicht so leicht und locker daran erfreuen. Sie fürchtet sich vor der unbekannten steilen Abfahrtsstrecke, die vor ihnen liegt.
Anke, die super tolle Skifahrerin, winkt kurz mit dem Skistock: »Wir sehen uns an der Talstation«, und fährt los.
Marlies atmet tief durch, geht in die Hocke, stößt sich ab … Sie sieht den Steilhang zu spät. Um noch ausweichen zu können, hat sie die Linkskurve verpasst.
Sie verliert die Balance, gerät in starke Rückenlage, die linke Skibindung geht auf.
Sie rutscht mit dem rechten Ski meterweise den Hang herunter, findet schließlich irgendwo am Waldrand Halt.
Beim Versuch, sich aufzurichten und die rechte Skibindung zu öffnen, rutscht sie noch einige Meter weiter in die Tiefe.
Nun liegt sie im Schnee, mit nur einem Ski. Ihr Herz rast. Ihre Glieder zittern.
Sie schaut in den Himmel, zwei Flugzeuge schlagen ein filigranes Kreuz in das strahlende Blau, sie prüft ihre Gelenke, es scheint alles okay.
Sie sieht sich um, der linke Ski liegt weit oben in einem Schneeberg. Freundin Anke ist wahrscheinlich schon unten im Tal angekommen.
Was nun? Sie ist verzweifelt. Doch da sieht sie, wie ein Skifahrer auftaucht, sich im Fahren nach unten bückt, ihren Ski aufhebt und im Hüftschwung zu ihr hingleitet.
»Haben Sie sich verletzt? Kann ich helfen?« Er reicht ihr die Hand, sie steht auf: »Danke, alles okay.«
Er hilft ihr beim Anlegen der Ski:
Die Geste, das Senken des Kopfes. Wie er sich bückt, wie er ihr den Skistock übergibt, wie er beim Anschnallen hilft …
Das erinnert sie an jemanden … »Immer schön links halten, da ist es nicht so steil«, ruft er noch, um dann wie eine Rakete davonzuschießen.
›Was war das jetzt …, ich kenne diesen Mann‹, denkt sie. Nun ja, durch Skihelm und Brille kann man sein Gesicht nicht genau sehen.
Ein Phantom …? Verfolgt es mich immer noch – nach all den Jahren?
Sie hatte gedacht, die Vergangenheit in die hinterste Schublade ihres Gedächtnisses gepackt zu haben.
Ein Beben geht durch ihren Körper. Jede einzelne Erinnerung ist zurückgekehrt …
aus dem 2. Teil des Roman „Unebene Wege“(erscheint zur Buchmesse Leipzig 2025)
Beitragsfoto: „drei-zinnen-Dolomiten“_kostenlos-pixabay